Ein Forschungsteam der Universität Zürich zieht eine erste Bilanz des Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche. Ihr Bericht hat es in sich, denn er spricht auch die katholische Sexualmoral an.
Die Studie enthält einiges an Brisanz, obschon es sich erst um eine Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche der Schweiz handelt. Was ein unabhängiges Forschungsteam der Universität Zürich unter der Leitung der Professorinnen Monika Dommann und Marietta Meier im Auftrag der katholischen Kirche heute Dienstag vorgelegt hat, ruft nach Fortsetzung und Vertiefung, die es auch geben soll. Und: Was das vierköpfige Forscherteam präsentiert, lässt aufhorchen, obschon viele kirchliche Archive, zu denen es weitgehend ungehinderten Zugang hatte, in einem bedenklichen Zustand sind.
Erkenntnisse aus der Dunkelforschung
Immerhin: Zehntausende Seiten bisher geheim gehaltener Akten erzählen viel, hinzu kamen Gespräche mit von sexuellem Missbrauch Betroffenen und weiteren Personen. Sie enthüllen, was die Forscherinnen als «Spitze des Eisbergs» bezeichnen: Auf insgesamt 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs seit den 1950er-Jahren sind sie gestossen, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene konnten identifiziert werden, 74 Prozent der Fälle betrafen Minderjährige.
Zahlreiche Archive konnten noch nicht ausgewertet werden. «Angesichts der Erkenntnisse aus der Dunkelfeldforschung gehen wir davon aus, dass nur ein kleiner Teil der Fälle überhaupt jemals gemeldet wurde», erklären Monika Dommann und Marietta Meier.
Was Pfarrer K. M. in seinem Wohnmobil trieb
Warum das so ist, wird klar, wenn man jene Einzelfälle studiert, mit denen der Bericht aufwartet. Etwa jener des beliebten Pfarrers K. M., der die Buben seiner Pfarrei in seinem Wohnmobil auf mehrtägige Reisen mitnimmt und sie dabei sexuell missbraucht. Seine Übergriffe sind seit einiger Zeit bekannt, erst 1986 aber werden sie den weltlichen Behörden gemeldet. 1989 wird K. M. zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt, eine vergleichsweise milde Strafe.
Da hat K. M. aber bereits in seinem anderen Bistum angehörenden Heimatort eine priesterliche Funktion übernommen. Vom Bistum Chur mit einem Verbot belegt, ist er in seinem Heimatort als Aushilfs- und Teilzeitpriester tätig.
Man begegnet hier dem, was Monika Dommann und Marietta Meier auch beschreiben: dass sexueller Missbrauch, wenn er denn einmal bekannt wird, gern bagatellisiert wird. Und zwar nicht nur von der kirchlichen Obrigkeit. «In der Pfarrei wurde nicht mehr von den früheren Ereignissen gesprochen», zitiert der Bericht den früheren Priester des Heimatorts. «Es war, wie wenn Gras darüber gewachsen wäre.»
Auffallend sei, stellen die Forscherinnen fest, «dass sich kurz nach der Verurteilung verschiedene Verantwortungsträger in die Diskussion um eine Zukunft von K. M. in der Seelsorge einbrachten und sich um das Wohlergehen von K. M. eine intensive Debatte entfaltete. Stimmen, die sich um eine Wiederholung der Übergriffe sorgten, sind in den Quellenbeständen nicht nachweisbar.»
Ein systemisches Versagen der Kirche
Das Beispiel macht deutlich: Katholische Priester haben gesellschaftlich eine besondere Position inne, und sind dadurch «bis zu einem gewissen Grad gegenüber Kritik an ihren Handlungen oder Taten immun». Diese Taten werden oft verharmlost oder totgeschwiegen, auch werden Kleriker von ihren Vorgesetzten geschützt. Betroffene aber schweigen – oder sie werden nicht gehört oder gar diffamiert.
So geht es im Fall des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche der Schweiz nicht um Einzelfälle, sondern um ein systemisches Versagen der Kirche. Ihm ist letztlich nur mit systemischen Reformen zu begegnen. «Jahrzehntelang betrachteten insbesondere die Spitzen von Bistümern und Ordensgemeinschaften jeden Missbrauch als Einzelfall und versuchten irgendwie damit umzugehen», stellen die Bischofskonferenz, die Römisch-Katholische Zentralkonferenz und die Vereinigung der Orden denn auch in ihrer Stellungnahme zum Bericht fest.
Man müsse sich inskünftig Themen wie den besonderen Machtkonstellationen in der Kirche widmen, weiter dem Umgang mit der Sexualität, dem Priester- und damit verbunden dem Frauenbild, und schliesslich der Ausbildungs- und Personalpolitik, «welche künftige Seelsorgende in der Vergangenheit nur ungenügend bis gar nicht auf ihre professionelle Eignung im Umgang mit Menschen geprüft hat».
Für Betroffene sollen schweizweit professionelle Angebote geschaffen werden, bestehende kircheneigene Meldestrukturen werden von Fachleuten überprüft, Missbrauchsakten dürfen nicht mehr vernichtet werden. Die Forschung wird weitergeführt.
In Frage gestellt ist auch die Sexualmoral
In welche Richtung diese Forschung auch gehen muss, das macht der Bericht dort deutlich, wo er sich den spezifisch katholischen Dimensionen der vielen Missbrauchsfälle zuwendet. In Pfarreien, insbesondere in Schulen, haben katholische Kleriker Machtbefugnisse, die «zu einer problematischen, stark asymmetrischen Beziehung zu ihren Schützlingen führten». Diese Machtposition fügt Fällen sexuellen Missbrauchs eine spirituelle Dimension hinzu, die das psychische und religiöse Grundvertrauen zu erschüttern vermag.
Begünstigt wird all dies «durch in der katholischen Kirche weit verbreitete Tabuisierungen», stellt der Bericht fest. «Besonders die katholische Sexualmoral ist ein wichtiges Charakteristikum, das sich auf den Umgang mit und auf das Sprechen über sexuellen Missbrauch auswirkt.» Ein wichtiger Aspekt sei das Bekenntnis zum zölibatären Leben, das oftmals noch sehr junge Menschen zur lebenslangen Enthaltsamkeit verpflichtet, und ihnen die Möglichkeit nimmt, körperliche Beziehungen einzugehen.
Dass gerade das Tabuisierte eine besondere Anziehungskraft zu entfalten vermag, zeigt sich in der Homosexualität. Obwohl sie nicht mehr explizit verfolgt werde, vermittelten Vertreter der katholischen Kirche nach wie vor eine homophobe Kultur, stellt der Bericht fest – während «verschiedene Studien auf einen deutlich höheren Anteil an homosexuellen Männern im katholischen Kontext im Vergleich zu der Gesamtbevölkerung hindeuten».