Kocho, bis vor kurzen noch ein beschauliches 1700-Seelen-Dorf im Norden Iraks, wird vorwiegend von Jesiden, einer ethnisch-religiösen Minderheit, bewohnt. Das Leben in der Ebene südlich des Sindschar-Gebirges, nimmt seinen eher beschaulichen Gang. Farida wächst dort zusammen mit ihren vier Brüdern in einem wohlgeordneten Umfeld nach Regeln der traditionellen jesidischen Gesellschaft auf. Ihr Vater arbeitet als Grenzwächter im nahegelegnen kurdischen Berggebiet. Die Dorfidylle zeigt sich mit Blumen, Bäumen und Gräsern, durch welche die Hirten ihre Herden treiben.
Doch langsam verändert sich das Leben. Immer dichter werden die Gerüchte, dass der sogenannte „Islamische Staat“ sich dem Nordirak nähert. Die Jesiden, welche von den IS-Leuten als „Teufelsanbeter“ bezeichnet werden, ahnen nichts Gutes. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Kocho sind verunsichert: Die einen raten, noch rechtzeitig zu fliehen, andere vertrauen dem Gemeindeobmann, der versichert, ihnen werde nichts passieren.
Die Katastrophe
Am 15. August 2014 spielt sich das Drama ab. Nachdem IS-Kämpfer ins Tal eingedrungen sind, wird der Ort umstellt. Nächtlich Flüchtende kehren am Morgen mit Schussverletzungen zurück. Und dann der Befehl: Die Bevölkerung wird aufgefordert, sich im Schulhaus zu versammeln, die Häuser werden einzeln durchsucht, ob sich niemand mehr versteckt hält.
„Es war ein merkwürdiges Gefühl, meine Schule unter diesen Umständen zu betreten,“ hält Farida, die eben das letzte Schuljahr hinter sich hat, die unheimlichen Eindrücke der sich anbahnenden Katastrophe fest. Die Familien werden getrennt. Frauen und Kinder in die oberen Stockwerke, die Männer müssen unten bleiben. „Das Letzte, was ich von Vater sah, war ein sehr trauriger Blick, den er mir zuwarf, während er meine älteren Brüder Belan und Serhad an den Händen hielt,“ erinnert sich die junge Frau.
In arabischer und kurdischer Sprache wurden die Entführten aufgerufen, sich zum Islam zu bekehren – dann würde ihnen nichts geschehen. Niemand ist bereit, sich bekehren zu lassen. Als Folge werden die Männer gezwungen, Lastwagen zu besteigen, angeblich würden sie in die Berge geführt. Kurz darauf ertönen jedoch aus der Nähe Schüsse – später stellt sich heraus, dass praktisch alle erschossen wurden. Unter den Frauen bricht Panik aus: „Sie weinten bestürzt und fassungslos. Sie schlugen sich mit den Händen ins Gesicht.“ Faridas Mutter murmelt bloss noch verzweifelt: “Sie werden auch uns töten, und wir können nichts dagegen tun.“
Der Sklavinnenmarkt von Rakka
Doch es kommt schlimmer: Die Mädchen ab zehn Jahren und jungen Frauen werden von ihren Familien getrennt und in einer langen Busfahrt nach Rakka in Syrien gebracht, wo sie alle in eine Halle gepfercht werden. Erneut erhalten sie das Angebot, Muslimas, und dafür „rechtmässige“ Ehefrauen von IS-Kämpfern zu werden, was alle ablehnen. Farida, die immer wieder unter epileptischen Anfällen leidet, klammert sich an ihre ältere Freundin Evin und sie schwören, möglichst immer zusammen zu bleiben.
In Rakka findet ein regelrechter Sklavenmarkt statt: Ständig kommen Männer in die Halle und suchen sich – gegen Entgelt – junge Frauen als Partnerinnen oder Sexsklavinnen aus. Die Mädchen werden betastet und begrabscht, Farida kommt sich vor wie auf dem Viehmarkt von Kocho: „So prüften die Männer dort Esel und Rinder, bevor sie sie kauften.“ Sie sind vor allem auf der Suche nach Jungfrauen. Viele werden später unter Männern als „Geschenke“ weitergegeben.
Eine Betroffene gab der Uno-Untersuchungskommission zu Protokoll, sie sei 15mal an „andere Besitzer“ weitergereicht worden – für junge Jesidinnen besonders entwürdigend, da sie von ihrer Religion her gehalten sind, sich nur mit Männern aus der eigenen Sippe zu verheiraten. Viele so als Sexsklavinnen missbrauchte Frauen versuchen oftmals, diesen Qualen durch Selbstmord zu entfliehen. Auch Farida ringt mehrmals mit dem Gedanken, sich lieber umzubringen, als unter diesen Bedingungen weiterzuleben.
Kampf gegen Vergewaltigung
Nachdem Farida und ihre Freundin ebenfalls an einen IS-Mann verkauft wurden, kämpfen die beiden wochenlang gegen ihre Vergewaltigung. Sie verweigern das Essen, sie wehren sich handfest mit Fäusten und Gegenständen, sie gaukeln Krankheiten vor und versuchen mehrmals zu fliehen. Gefangen in einem Container mitten im Kriegsgebiet erleiden sie jedoch das Schicksal, das alle diese Frauen irgendwann einholt: Sie werden sexuell missbraucht.
Die inneren, psychischen Wunden sind noch fast schlimmer als die äusserlichen Verletzungen. Mittels eines gestohlenen Handys kann Farida eines Tages heimlich Helfer für eine Flucht aus einem Militärcamp organisieren. Sie entgehen dabei knapp der Entdeckung und dem sicheren Tod. Auf abenteuerlichen Wegen landet Farida in einem Flüchtlingscamp im Irak, in einer Region, die mittlerweile von den Kurden befreit worden war.
Das Desaster nach der Katastrophe
Die Suche nach ihrer Familie wird zur nächsten Belastung: Klar war, dass der Vater und der älteste Bruder gleich am ersten Tag der Besetzung erschossen worden waren. Die jüngeren beiden Brüder seien dazu gezwungen worden, sich zu IS-Kämpfern ausbilden zu lassen, obwohl diese offenbar nur darauf warteten, desertieren zu können. Der vierte Bruder war nach allem, was Geschehen war, in tiefe Depressionen gefallen, vor allem, weil es ihm noch immer nicht gelungen war, die Mutter – die noch immer vom IS gefangen gehalten wurde – zu befreien.
Dazu wollte er sich den kurdischen Befreiungskriegern anschliessen. „Lass das,“ flehte ihn Farida an, „ich habe nur noch dich. Bitte, bleib bei mir!“ Das einstige Familienglück war zerstört, die Zukunft ungewiss. Früher oder später wollten sie alle nach Kocho zurückkehren, ohne allerdings zu wissen, ob es ihr ehemaliges Haus überhaupt noch gab.
Das Buch ist ein wichtiges Zeitdokument vom Schrecken des sogenannten „Islamischen Staates“ und seiner Barbarei. Farida schliesst ihren Text mit dem Fazit: „Ich habe überlebt, um zu zeigen, dass ich stärker bin als sie.“
Als Völkermord eingestuft
Der am Donnerstag veröffentlichte Bericht der Uno-Sonderkommission für Syrien braucht deutliche Worte, um zu umschreiben, wie die Gräuel zu bewerten sind: Verschleppt, verkauft, vergewaltigt, ermordet. 3000 jesidische Männer seien getötet, 5000 Frauen und Kinder in die Sexsklaverei entführt worden. Noch immer befänden sich aktuell etwa 3200 Frauen und Kinder in der Gewalt der IS-Terroristen.
Die vom Uno-Menschenrechtsrat berufenen Ermittler unter Leitung des brasilianischen Diplomaten Paulo Pinheiro klagen den IS des Völkermords an und verweisen auf die Genozid-Konvention der Vereinigen Nationen. Der IS versuche mit „entsetzlichsten Gräueltaten die Jesiden – die er als Ungläubige ansehe – durch Morde, Vergewaltigungen, Versklavungen und Aushungern als Bevölkerungsgruppe auszulöschen.“
Pinheiro fordert deshalb den Uno-Sicherheitsrat auf, unverzüglich den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit der Verfolgung der verantwortlichen IS-Kommandeure zu beauftragen und dazu ein Sondertribunal einzurichten. Diesem Urteil schliesst sich die Schweizer Juristin Carla del Ponte, Mitglied der Untersuchungskommission, an: „Das zeigt klar, dass die Aktionen des IS als Völkermord einzustufen sind.“
Hoffnung?
Neue Agenturmeldungen berichten, dem sogenannten „Islamischen Staat“ würden zurzeit vernichtende Niederlagen in Syrien bereitet, den Gotteskriegern gehe langsam das Geld aus und ihm liefen Kämpfer gleich scharenweise davon. Vielleicht sind die neusten Schlagzeilen über den IS mehr Wunschdenken als Realität. Die junge Farida jedenfalls hat auf ihre Weise den IS besiegt.
Andrea C. Hoffmann: Farida Khalaf. Das Mädchen, das den IS besiegte, Bastei Lübbe AG, Köln 2016, ISBN 978-3-431-03945-0