Dieses Datenleck erzeugt sozusagen die Primärwellen, die den Seismographen die rechtzeitige Frühwarnung der Bevölkerung vor einem kommenden Erdbeben oder Tsunami erlauben. Allerdings muss diese ernst genommen werden.
Erdbebenalarm
Dieser Frühalarm kann vor grossen Schäden schützen, werden rechtzeitig die angezeigten Schutzmassnahmen realisiert. Noch am 5. April 2016 schrieb die NZZ: „Offshore-Affäre löst Ermittlungen aus – vorerst sind keine grossen Folgen der Affäre absehbar“. Wirklich nicht? Bereits 24 Stunden später hatte die Welt ihren neuesten Datenleck-Skandal, diesmal von gigantischem Ausmass, was wiederum die NZZ am 9. April 2016 zur bemerkenswerten Diagnose veranlasste: „Die Globalisierung erfasst auch den Journalismus“. Den Beitrag titelte sie „Die Internationale der Schnüffler“. Fast hörbar ist die Ablehnung dieses monströsen Vorgangs, der so gar nicht in ein konservatives Weltbild passen will.
Es kam, wie es kommen musste
Wer Missstände enthüllt – ein Whistleblower – begeht Unrecht, wenn er gestohlene Daten an Dritte weiterleitet. Für die Einen ist damit der Fall klar, der Täter gehört verhaftet und bestraft. Es ist verständlich, dass Juristen solche Leaks als Verbrechen einstufen. Und ebenso nachvollziehbar ist es, dass diese Kreise den Ruf nach absoluter Transparenz als „Nährboden für eine gefährliche Entwicklung“ (NZZ) bezeichnen. Die gleichen Argumente wurden seinerzeit bei der Verteidigung des Schweizerischen Bankgeheimnisses vorgebracht. Wir kennen die Entwicklung seither.
Dann gibt es aber die Andern, Millionen von Menschen rund um den Erdball, die davon betroffen sind, dass über Steueroasen und Briefkastenfirmen Geld aus ihren Ländern abgezogen und in mehr oder weniger obskuren Hide-outs versteckt wird. Verfechter dieses Offshore-Systems werden nicht müde zu betonen, dies sei alles Rechtens, denn versteuertes Vermögen dürfe überall auf der Welt platziert werden. Wer das mit den versteuerten Vermögen nicht so recht glauben will, stellt die wohl etwas naive Frage, ob denn für solche Transaktionen nicht doch auch andere Gründe ausgemacht werden könnten. Vor dem Hintergrund dieses neuesten medialen Wirbels, der innert 72 Stunden die ersten prominenten Opfer gefordert hat, lohnt sich eine kleine Auslegeordnung. Tatsache ist, dass, wer verschoben und verborgen hat, diesmal mehr als nur die offengelegten Summen verlieren könnte.
Der grösste Sumpf der Erde
Mit den unter dem Sammelbegriff Panama Papers investigierten und veröffentlichten Daten scheint die „Amelioration“ eines Sumpfes der neuen Art in Gang gekommen zu sein. 2,6 Terabyte an Daten sind aus dem Panama-Sumpf gesogen worden und bei der Süddeutschen Zeitung gelandet. 11,5 Millionen Dokumente fanden so den Weg aus dem trüben Teich ins grelle Tageslicht der globalen IT-Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Sie enthalten alle relevanten, hochbrisanten Fakts: Inhaber, Beträge, Tarnnamen, die sich dahinter verstecken; Staatspräsidenten sind betroffen, Firmenkonglomerate involviert, ehrenwerte Gesellschaften entlarvt, die Liste ist ellenlang.
Noch bevor weitere Details bekannt werden, sei daran erinnert, dass die Panama Papers nur einen der vielen Ableger dieses lukrativen und bis anhin krisensicheren Business‘ offenlegt haben und die betroffene Firma Mossak Fonseca auch nur eine dieser diskreten Anwaltskanzleien in Panama ist. Sie aber weist allein für 2015 66‘135 von ihr für Klienten gegründete Briefkastenfirmen in den diversen Steueroasen der Welt aus. 2009 waren es 81‘810, 1977 noch einige hundert (statista.com). Ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass Panama – gemessen an der Anzahl Finanzintermediären – nur an fünfter Stelle der 10 populärsten Steueroasen rangiert, mit einem Anteil von mickrigen 6,5 Prozent. Weit grösser und potenter sind in absteigender Reihenfolge Hongkong, Grossbritannien, Schweiz, USA, dann Panama, gefolgt von den kleineren Guatemala, Luxemburg, Brasilien, Ecuador, Uruguay. Viele Kommentatoren sprechen deshalb von der Spitze des Eisbergs, der da aufgedeckt worden sei. So oder so: die involvierten Summen sind gigantisch.
Epochaler Wandel?
Natürlich beteuern alle involvierten Kreise, von Banken über Anwälte, Vermögensverwalter, Politiker die Rechtmässigkeit solcher Firmenkonstrukte. Tatsächlich ist Steueroptimierung für (grosse) Vermögen und Einkommen solange legal, als sie nicht verboten ist. Doch die Tage dieser Briefkastenfirmen sind gezählt. Seit die EU, die OECD und die USA (Facta) jene Sümpfe auszutrocknen gedenken, in denen Steuern „optimiert“ werden, bläst ein neuer Wind jenen cleveren oder konservativen Kräften ins Gesicht, die die „Rechtmässigkeit“ solchen Gehabens verteidigen. Kleine „Fische“ wie die Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg haben auf Druck der Mächtigen weitgehend kapituliert und sind daran, ein neues Finanz-Geschäftsmodell zu entwickeln. Es bleibt vorerst aber ein grosser weisser Flecken bei diesen Bestrebungen: die USA, die wie Cowboys mit Peitschen hinter diesen kleinen Players her stürmen, die USA selbst betreiben in einzelnen ihrer Staaten lukrative Offshore-Adressen, die von der eigenen Politikerkaste „übersehen“ werden.
Dank der neuen, durch das Internet ermöglichten Transparenz realisieren plötzlich grosse Teile der Gesellschaft, was da hinter ihrem Rücken abläuft. Was, so fragen sie sich, wird da noch auf uns zukommen, wenn weitere Datenleaks in Umlauf geraten? Wenn gar „Swiss Papers“ dabei sein sollten?
Gier ohne Grenzen
In der ZEIT wird der Frage nachgegangen, „wie die Reichen die Solidarität mit 99 Prozent der Menschheit aufkündigen“. Der Begriff Reiche ist da allumfassend verstanden. Nicht überraschend beinhaltet er Schattenfiguren für mafiöse Konstrukte, Geldwäsche, Korruption. „Es ist nur ein einziges Datenleck und schon zeigt sich ein weltumspannendes Schattenreich aus Verschlagenheit, Zynismus und Gier.“ Eine „Internationale der Illoyalität“ ist am Werk. Die Konsequenzen sind noch nicht abzusehen. Da sind die Einen, die auf ein Durchgreifen der staatlichen Organe hoffen, dort die Andern, die – wohl etwas gar voreilig – mit einem Ende des globalisierten Turbokapitalismus rechnen.
„Die Menschen spüren, dass etwas grundsätzlich schiefläuft. Dass vom globalisierten Kapitalismus nur sehr wenige (Individuen und Grosskonzerne) unfasslich stark profitieren.“
Beginn einer neuen Ära
Paul Mason, der aufmüpfige Denker in London, geht einen Schritt weiter. „Diese Enthüllungen [Panama-Leaks] zeigen, wie sehr der wahre Kapitalismus zu einer Untergrundwelt geworden ist.“ Das ist wohl leicht übertrieben, doch, wenn grosse Teile der kapitalistischen Elite ihre Vermögen den offiziellen Bahnen entziehen, fehlen diese Abermilliarden natürlich dem System (resp. den Steuereinnahmen der Staaten). „Die Entwicklung der Informationstechnologie ist die treibende Kraft: sie ist mit der heutigen Form des Kapitalismus nicht vereinbar“, sagt Mason in der ZEIT.
Es beginnt eine neue Ära, davon ist er überzeugt. Beispiele: sehr gut informierte Menschen und eine Ökonomie der kostenlosen Dinge, kooperative Non-Profit-Organisationen; überall entstehen revolutionäre neue Mischformen zwischen Markt, Staat, Gemeineigentum und Technik. „Wir haben es mit einem Prozess von 100 Jahren zu tun“. Das ist wohl für viele etwas beunruhigend. Der multiple Lebensstil (Richard Sennett) einer vernetzten Generation könnte das Ende des neoliberalen Modells bedeuten. Utopisten haben seit jeher Unmögliches vorausgesagt. Wenn solches dann doch eintrifft, meinen plötzlich alle: das haben wir doch schon immer gesagt. Oder wie es Mark Twain einst treffend formulierte: Jeder Mensch mit einer neuen Idee ist so lange ein Spinner, bis sich die Idee durchgesetzt hat. Leserinnen und Leser sind gefordert.
Daten transformieren die Welt
Die Panama-Papiere lassen niemanden kalt. Es geht an dieser Stelle nicht darum, Stellung zu nehmen, was legal, was illegal. Auch interessieren die bekannten involvierten Grössen rund um den Erdball wenig. Es geht jetzt doch darum, Unrecht offenzulegen, Verbotenes zu entlarven. Was nicht in diese Kategorie gehört, hat wenig zu befürchten. Grundsätzlich neu ist das Netzwerk 376 investigativer Journalisten, das eine neue Ära nach Wikileaks und Bankdatenklau einläutet. Das Grundprinzip des „radical sharing“ ist jetzt auch im Journalismus angekommen (journal21 praktiziert das schon seit der Gründung), andere Wirtschafts- und Wissenschaftsteile sind vorausgegangen (etwa mit „cloud-computing“). Wissen teilen, offenlegen ist der neue globale Trend, der das alte, „geheim halten“ ablöst.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben
Immer dann, wenn das kapitalistische System versagt, ruft die Gesellschaft nach neuen schärferen Vorschriften, um Wiederholungsfälle zu vermeiden. Oft übertreiben dann die Regulatoren, doch immer wehren sich die betroffenen Firmen – sekundiert von konservativen Medien und einem Heer bezahlter Lobbyisten und Anwälten – gegen strengere Gesetze, die ihnen das Geschäft zu vermiesen drohen. Unser liberales System hat vielen Menschen Wohlstand gebracht. Doch die Auswüchse drohen es selbst aus den Angeln zu heben. In der Schweiz erleben wir zum x-ten Mal dasselbe politische Trauerspiel: die Linke will strengere Kontrollen, die Rechte will gar nichts ändern, des „internationalen Wettbewerbs“ wegen. Doch, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Ethische Regeln galten einst auch im Zusammenhang mit Geld, Vermögen, Reichtum. Nicht zuletzt basieren unsere westlichen Demokratien auf solchen Werten. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Oder erleben wir gerade im Moment, dass sich überfällige Selbstkorrekturen anbahnen – zum Wohle (fast) aller?