«Nie aber habe ich in den Vereinigten Staaten von Amerika erwartet, was sich diese Woche im Repräsentantenhaus ereignete», schreibt in der «Washington Post» Dana Milbank: «Einhundertneunundneunzig republikanische Kongressabgeordnete schlossen sich zusammen, um eine üble, uneinsichtige Anti-Semitin in ihren Reihen zu verteidigen, die dazu aufruft, ihre Gegner zu ermorden.»
Die Ursache für das Entsetzen des Kolumnisten? Das US-Repräsentantenhaus hatte mit 230 zu 199 Stimmen beschlossen, die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene aus Georgia aus zwei Kommissionen auszuschliessen, für die sie vorgesehen war. Zwar hatte sich Greene vor der Abstimmung noch halbherzig für Äusserungen entschuldigt, die sie in jüngerer Zeit gemacht hatte, sich gleichzeitig aber als Märtyrerin und Opfer inszeniert. Sie verteidige als Volksvertreterin lediglich die von der Verfassung garantierte Redefreiheit gegen Angriffe von Liberalen, Demokraten und ungenannte Eliten. Auf die Frage von Journalisten, ob sie sich für ihre Äusserungen nicht entschuldigen wolle, antwortete sie, es liege an der Presse, sich bei ihr zu entschuldigen.
Marjorie Taylor Greene ist im Kongress die erste Anhängerin von QAnon, jener Person oder Sekte, die seit 2017 im Internet abstruse Verschwörungstheorien mit rechtsextremem Hintergrund verbreitet. Die republikanische Abgeordnete hat sich in den sozialen Medien wiederholt mit islamophoben, anti-semitischen und rassistischen Äusserungen und Videos zu Wort gemeldet.
Unter anderem behauptete Greene, die zerstörerischen Waldbrände in Kalifornien seien 2018 von einem Laser im Weltraum entfacht worden, der einer prominenten jüdischen Bankiersfamilie gehört. Die Terrorattacke auf das Pentagon am 11. September 2001 und das Massaker an einer High School in Parkland (Florida), wo am 14. Februar 2018 ein 19-Jähriger 17 Menschen erschoss, hielt sie für betrügerische Inszenierungen und beschimpfte einen überlebenden Schüler, der sich heute für schärfere Waffengesetze einsetzt, öffentlich als «Feigling» und «little Hitler». Nur ein «hoax», ein schlechter Scherz, war für sie auch das Rally von Neo-Nazis am 11. August 2017 in Charlottesville (Virginia), wo weisse Rechtsextremisten «Juden werden uns nicht ersetzen» riefen.
Auf Facebook unterstützte die 47-jährige Politikerin Posts, welche die Hinrichtung von prominenten demokratischen Politikern wie Barack Obama, Hillary Clinton oder Nancy Pelosi forderten. «Eine Kugel in den Kopf wäre schneller» als sie wegen Landesverrats ihres Amtes zu entheben, schrieb ein User über Nancy Pelosi, die Vorsitzende des Repräsentantenhauses. «Werden wir sie jetzt aufhängen können?», fragte ein anderer und meinte den Ex-Präsident Obama und die frühere First Lady. «Die Bühne wird bereitet», antwortete Greene: «Die Mitspieler werden positioniert. Wir müssen geduldig sein.» Greene glaubte auch an Pizzagate, jene Verschwörungstheorie, wonach Hillary Clinton und andere Spitzen der demokratischen Partei im Keller einer Pizzeria in Washington DC einen pädophilen Ring unterhielten. Über Financier George Soros, einen Überlebenden des Holocaust, sagte sie, er habe mit den Nazis kollaboriert.
Nach dem Sieg Joe Bidens bei der Präsidentenwahl am 3. November und dem Sturm aufs Kapitol in Washington DC vom 6. Januar stellte sich die Frage, wie die republikanische Partei auf ihren Machtverlust reagierte. Würde sie weiterhin Donald Trump loyal ergeben bleiben, um in Zukunft die Unterstützung seiner Wählerinnen und Wähler nicht zu verlieren, oder würde sie sich neu erfinden, indem sie sich vom Ex-Präsidenten distanzierte und sich auf traditionelle Werte besann? Die Reaktion der Republikaner auf Marjorie Taylor Greene lässt keinen Zweifel offen, dass eine überwiegende Mehrheit unter ihnen weiterhin entweder naiv oder eher zynisch auf blanken Trumpismus setzt, eine Politik, welche die Nation spaltet, statt zu einigen. 45 von 50 republikanischen Senatoren haben am 26. Januar gegen ein Amtsenthebungsverfahren Donald Trumps gestimmt. Umfragen zufolge stehen noch immer bis zu 80 Prozent der republikanischen Wählerschaft hinter dem Ex-Präsidenten.
Zwar finden sich im US-Kongress einzelne Republikaner mit Rückgrat, die Marjorie Taylor Greene verurteilen und von ihr deshalb als «Verräter» beschimpft werden. Ausgerechnet Mitch McConnell, Minderheitsführer der Partei im Senat, nannte die «irren Lügen und Verschwörungstheorien», denen sie anhänge, «einen Krebs für die republikanische Partei». Ohne Greene beim Namen zu nennen, teilte der Senator aus Kentucky in einem Communiqué mit, jemand lebe nicht in der Realität, der vermute, dass an 9/11 kein Flugzeug das Pentagon getroffen habe, dass abscheuliche Massaker an Schulen nur inszeniert worden seien oder dass die Clintons für den Flugzeugabsturz von John F. Kennedy Jr. verantwortlich zeichneten.
Greenes umgehende Antwort per Twitter? «Der eigentliche Krebs der republikanischen Partei sind schwache Republikaner, die lediglich mit Anstand zu verlieren wissen.» Die Abgeordnete ist nach wie vor überzeugt, dass Donald Trump die Wahl gestohlen worden ist, obwohl sie ihre eigene Wahl in Georgia nicht angefochten hat. Sie will demnächst den Ex-Präsidenten treffen und ihn ihrer ungebrochenen Unterstützung versichern. Im Übrigen habe sie, sagt sie beleidigt, all die Äusserungen, die Kritiker ihr nun vorwerfen würden, vor ihrer Wahl gemacht.
Viel zahlreicher als Marjorie Taylor Greenes republikanische Kritiker waren im Abgeordnetenhaus ihre Verteidiger. «Wir alle haben schon Dinge gesagt, die wir im Nachhinein bereut haben», meinte einer. «Wir sollten nicht die Zeit dieses Gremiums damit vergeuden, eines unserer Mitglieder zu attackieren», argumentierte ein anderer. Und ein dritter Volksvertreter, der Greenes Rhetorik zwar verurteilte, fand es «traurig» und «noch nie da gewesen», dass die Demokraten darauf verzichteten, die Kollegin ohne «ein faires Verfahren» aus zwei Kommissionen, dem Bildungs- und dem Budgetausschuss, zu verbannen.
Ins Bild einer schlingernden Partei passen auch jene republikanischen Repräsentanten, die zu Parlamentssitzungen Schusswaffen tragen und sich vehement dagegen wehren, beim Betreten des Kapitols neuerdings Metalldetektoren durchschreiten zu müssen oder, falls sie sich weigern, mit mindestens 5’000 Dollar gebüsst zu werden. Eine Abgeordnete aus Arizona sieht die neue Verordnung als Ausfluss «eines totalitären Staates» und hat per Twitter verbreitet, die Sicherheitsvorschriften seien der Beweis, dass Abgeordnete «nun in Pelosis kommunistischem Amerika» leben.
Einem Dilemma sehen sich Marjorie Taylor Greene zufolge auch die «blutrünstigen Medien» gegenüber, die sie «kreuzigen» wollten. Denn je häufiger und je kritischer die Presse über die Abgeordnete aus Georgia berichten, desto populärer wird sie unter ihrer Anhängerschaft. «Von den Medien gehasst» sei ein Etikett, das die Basis ihrer Beliebtheit sei, sagt Jay Rosen, Journalismus-Professor der New York City University: «Kritische Berichterstattung bewirkt nicht, was wir uns davon erhoffen: Rechenschaft. Im Gegenteil, sie stärkt ihr Résumé.» Wenig überraschend, dass es der Politikerin seit den ersten negativen Medienberichten über ihre anrüchige Rhetorik gelungen ist, 1,6 Millionen Dollar an Spenden einzusammeln.
Der Fall Marjorie Tylor Greenes stimmt wenig optimistisch, was eine nachhaltige Kooperation zwischen Demokraten und Republikanern betrifft, ohne die es Präsident Joe Biden nicht gelingen wird, jene Probleme anzugehen, welche die Entwicklung der USA zu einer faireren, gerechteren und gesünderen Gesellschaft nach wie vor behindern. Denn eine der Voraussetzungen dafür wäre, dass beteiligte Individuen und Instanzen Lügen und Verschwörungstheorien abschwören und auf den Boden der Realität und der Faktizität zurückehren, statt sich in Volksverdummung und Volksverhetzung zu üben. Eine Wählerin Marjorie Taylor Greenes sagte nach Bekanntwerden der bizarren Aussagen der Republikanerin reuig und richtig, im Alten Testament stehe, die Weisen seien die Stillen: «Je mehr sie den Mund auftut, desto weniger Beweise für ihre Weisheit gibt es.»