Pravoslav Sovak floh nach dem Einmarsch der Sowjettruppen in Prag im August 1968 in den Westen. In der Schweiz erhielt er bald danach politisches Asyl. Mehr als sein halbes Leben lebt der 89-Jährige nun schon in der Innerschweiz. Fast ein Jahrzehnt wohnte er in Luzern, dann baute er sich ein Haus in Hergiswil NW, hoch über dem Vierwaldstättersee. Mit den Millionären, von denen es in der Nidwaldner Steueroase wimmelt, hat er jedoch nichts am Hut. Die protzigen Villen und klotzigen Terrassenhäuser, die dort in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind, ärgern ihn. Seine Nachbarn sind ihm fremd.
Im Atelier des schlichten Betonbaus in Hergiswil stapeln sich freilich Tuben und Töpfe. In diesem verborgenen Winkel, umgeben von einem wilden Garten, schuf Sovak Bilder, die heute im Museum of Modern Art in New York, in der Albertina in Wien und in anderen Sammlungen von Weltrang hängen. Hierzulande blieb er bisher dennoch ein weitgehend „unbekannter Meister“, wie die Zeitschrift „Du“ im Oktober 2014 titelte.
Das sollte sich jetzt ändern mit der Retrospektive, die Matthias Haldemann für das Kunsthaus Zug kuratiert hat. 250 Arbeiten von Pravoslav Sovak hat Haldemann in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler ausgewählt und so über die Räumlichkeiten in Zug verteilt, dass sich ein repräsentativer Querschnitt durch ein reiches Oeuvre ergibt. Frühe Gemälde hängen mitunter neben Radierungen der reifen Jahre und nehmen Themen vorweg, die in den jüngsten digitalen Arbeiten wiederkehren. In fein abgestimmten Sequenzen spricht dieses Lebenswerk quasi für sich, was dem Grafiker und Maler nur recht sein kann.
Sovak ist allem Gerede über Kunst abhold. Unter dem Volk, das von Paris über Petersburg bis Zug zur Eröffnung seiner Ausstellungen strömt, wirkt er oft verloren wie einer, den der Zufall angespült hat. Dass er im grellen Kunstbetrieb ein Aussenseiter blieb, hat mit seiner Zurückhaltung zu tun. Und die wiederum erklärt sich zumindest teilweise aus seiner Biografie.
Sovak, 1926 geboren, wächst in einer Arztfamilie in Pilsen auf. Die Skodawerke verpesten die Luft der westböhmischen Industriestadt. Weil der Sohn kränkelt, schicken ihn die Eltern für eine Weile zurück aufs Land, nach Vysoké Myto, dem Stammsitz der Familie. Mit seinem Grossvater streift der Bub dort stundenlang durch Wälder, beobachtet Tiere und Pflanzen, die der Alte Lateinisch benennt. Zurück in Pilsen, träumt der kleine Pravoslav davon, dereinst naturwissenschaftliche Studien zu verfassen und sie selber zu illustrieren.
Später Anfang
Im März 1939 marschiert Hitler in Prag ein und errichtet das Protektorat Böhmen und Mähren. Pravoslav ist noch nicht 13-jährig, ein Blondschopf mit wachen Augen. In den tristen Kriegsjahren liest er französische Lyrik und auch sonst alles, was in den elterlichen Regalen steht. Zudem zeichnet er und fertigt erste Holzschnitte an. Der Besuch eines Gymnasiums bleibt ihm unter den Nazis verwehrt. Stattdessen versucht er sich als Hilfsarbeiter in einem Kaolinwerk, bis er krank wird. Von 1942 an darf er die Keramikfachschule in Bechyne besuchen. Nach Kriegsende absolviert er die Kunstgewerbeschule in Prag.
Inzwischen hat Sovak den Kunsthistoriker Vincenc Kramar kennengelernt. Der begnadete Sammler macht ihn mit dem französischen Kubismus und den eigenen hohen Massstäben vertraut. Mit einem Zug, der Kriegsgefangene aus dem Osten in die westlichen Länder zurücktransportiert, reist der 20-Jährige im Sommer 1946 nach Paris, wandert durch französische Museen und entlang der immer noch verminten Atlantikküste.
1948 übernehmen in der Tschechoslowakischen Republik die Kommunisten die Macht. Bis 1956 zollt Sovak dem realen Sozialismus Tribut als Handlanger in Bergwerken und Eisenhütten.
1957 zieht Sovak ins Prager Viertel Smichov um. Zu seinen Nachbarn gehört jetzt der Kupferdrucker Pregassi. Sofort lotet Sovak neue Möglichkeiten der Radierung aus. Er nimmt auch den Pinsel wieder zur Hand. Die Stadt wird zum zunächst vorherrschenden Thema. Er radiert sie und malt sie in Öl - die Stadt als explosiver Kern und Trümmerhaufen, die menschenleere Stadt, die flirrende Stadt, flirrend vor Licht und sinnlos verschleuderter Energie.
Das sei das Schicksal einer ganzen Generation, schreibt der Schriftsteller Milan Kundera 1964 im Katalog zu einer Ausstellung seines Landsmanns und Freundes Sovak in Prag. Ihm und seinen Gefährten mangle es an Kontinuität, klagt Kundera. Alle hätten mehr Zeit verstritten, als sie je kreativ arbeiten konnten. „In der Entwicklung eines jeden von uns gibt es eine lange Vorgeschichte und einen späten Anfang.“
Struktur gegen das Chaos
Am 21. August 1968 rollen die Panzer des Warschaupakts an. Die Hoffnungen auf politische Reform und kulturelle Öffnung, die der Prager Frühling geweckt hatte, walzen sie nieder. Sovak hat in Südböhmen gerade eine alte Mühle zum Atelier umgebaut. Dennoch ist ihm klar: Noch eine Besatzung will er nicht erleben. Mit seiner Frau Hana verlässt er selbigen Tags das Land. Die ersten Monate kommen sie in Deutschland unter, dann übersiedeln sie in die Schweiz.
Der C. J. Bucher in Luzern gibt 1969 Pavel Kohouts Notizen „Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs“ heraus, illustriert mit Grafiken von Sovak. Hierfür bedient sich der Künstler einer Mischtechnik aus Radierung, Kaltnadel und Aquatinta. Um seinen Zeugnissen einen höheren Authentizitätswert zu verleihen, montiert er bereits veröffentliche Pressefotos vom Prager Herbst auf die Druckplatte. Diese Dokumente verfremdet er jedoch gleich wieder, unterlegt ihnen Zeichen und malerische Elemente. So gewinnt er dem dramatischen Geschehen eine allgemeingültige Aussage ab.
Die Vermischung der Mittel bringt er in den „Indirect Messages“ zur Vollendung. Dieses Mappenwerk, das von der Vereinzelung des Menschen handelt, wird 1972 erstmals in New York ausgestellt und trägt Sovak Vergleiche mit Robert Rauschenberg ein. In den grafischen Blättern wie auch in den Gouachen, Papiercollagen und grossformatigen Fotomontagen der folgenden Jahrzehnte variiert der Künstler das Thema Wüste, die unbehauste Landschaft und das erinnerte Leben, ein Problem, das ihn nach der Krankheit und dem Tod Hanas auch persönlich umtreibt. Dabei wird er zum Landvermesser, der nach der verästelten Ordnung in den Dingen sucht und das Chaos besiegt, indem er es strukturiert – ganz im Sinn des legendären böhmischen Puppenspielers Matej Kopecky, dessen Kaspar dem türkischen Sultan auf die herrische Frage nach dem Woher und Wohin entgegenhält: „ Woher ich komme, das liegt hinter mir. Und wohin ich gehe, das liegt vor mir.“
Pravoslav Sovak – die erste Schweizer Museumsretrospektive im Kunsthaus Zug. Bis zum 29. Mai.