Die Szene, am Samstag in Gaza nach 10 Uhr vormittags, wirkte wie eine gespenstische Inszenierung: im Hintergrund zertrümmerte Gebäude, ein Geröllhaufen, was einst das Wohnhaus von Menschen war – davor eine Bühne. Rundherum mehrere hundert Menschen, die so heiter wirkten, als würden sie einen sportlichen Anlass verfolgen.
Im Zentrum vermummte Uniformierte, die einen in Tarnkampf-Montur, die anderen schwarz gekleidet. Vier Frauen, in frisch gebügelten khakifarbenen Uniformen, wurden auf die Bühne geführt: vier israelische Soldatinnen, kurz bevor sie, nach 16 Monaten Geiselhaft unter Bombenhagel, einem Team des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz übergeben wurden. Dann wurden die vier Frauen zum IKRK-Fahrzeug geleitet, die Menge applaudierte.
Wem wurde da applaudiert? Den vier Israelis – oder der Hamas, die den Krieg mit dem Überfall vom 7. Oktober 2023 provoziert hatte?
Die Szene in Gaza zeigte eine Schein-Welt, für Palästinenser wie Israeli. Sie widerspiegelte die Absurdität, in die sich Israel und seine Feinde verstrickt haben: Israels Führung war sich damals sicher, dass sie die Hamas-Terrorgruppe, Chefs wie Fusstruppen, in kurzer Zeit vernichten und die ca. 240 Geiseln befreien könnte. Hamas anderseits hatte spekuliert, dass sie durch den Ausbruch aus dem Gaza-Freiluftgefängnis, dem Massenmord und der Geiselnahme so viel Angst und Schrecken verbreiten würde, dass Israel kapitulieren müsste.
Trümmerwüste
Aber weder das eine noch das andere wurde Realität: Die Hamas verlor im Krieg, je nach Quelle, zwischen 8’500 und 17’000 Kämpfer und die gesamte Führungsriege; total starben mehr als 47’000 palästinensische Frauen, Kinder und Männer (Hamas-Kämpfer und Zivilisten), und über 100’000 wurden teils schwer verletzt. Der Gaza-Streifen wurde zur Trümmer-Wüste, und jetzt fristen 90 Prozent der Überlebenden ihr Dasein, auch während des kalten Winters, in Zelten. Die Hamas aber existiert nach wie vor.
Der Führer heisst nun nicht mehr Yahia Sinwar (er fiel im Oktober 24 einem israelischen Angriff zum Opfer), sondern Mohammed Sinwar (Bruder von Yahia). Und die getöteten Fussvolk-Soldaten, diese Vermutung äusserte zumindest Antony Blinken, der Aussenminister der abgewählten Biden-Regierung in den USA, wurden durch Rekrutierungen ersetzt.
Israel verlor in diesen 16 Kriegsmonaten 450 Soldatinnen und Soldaten, erlitt einen schweren wirtschaftlichen Einbruch – und büsste international Respekt und Achtung ein: Die Führung wird mit Genozid-Vorwürfen überhäuft und sowohl Premier Netanjahu als auch der ehemalige Verteidigungsminister wurden vom Internationalen Strafgerichtshof zur Fahndung ausgeschrieben. Nicht mehr nur Regierungen irgendwo in der Ferne, sondern auch solche in Europa, beschuldigen nun Israel, es praktiziere gegenüber den Palästinensern Apartheid.
1,5 Millionen Palästinenser nach Jordanien umsiedeln
Auf die israelische Führung macht das nur beschränkt Eindruck, die Anschuldigungen bestärken Premier Netanjahu und seine Crew vielmehr darin, dass die internationale Gemeinschaft breitflächig vom Virus des Antisemitismus befallen sei. Die israelische Regierung ist sich der unverbrüchlichen Loyalität der Vereinigten Staaten sicher, ja, die Solidarität der Trump-Gefolgschaft mit Israel ist sogar deutlich solider als jene der alten Biden-Crew (die Israel zwischendurch immer wieder einmal anmahnte, im Gaza-Krieg «vorsichtiger» vorzugehen, anderseits aber vollumfänglich Waffen und Munition für die Fortsetzung des Kriegs lieferte).
Wie eisern die neue US-Regierung an der Seite Israels steht, belegen zahlreiche Aussagen. Pete Hegseth, vom Senat eben hauchdünn im Amt des US-Verteidigungsminister bestätigt, gab zu Protokoll: «Israel, das Christentum und mein Glaube sind Dinge, die mir sehr am Herzen liegen.» Und äusserte, der Bau eines jüdischen Tempels an der Stelle, wo jetzt in Jerusalem die Al-Aqsa-Moschee steht, sei durchaus vorstellbar. Marco Rubio, neuer Aussenminister, erklärte, die Israeli hätten ein Recht, überall in «ihrem historischen Heimatland» zu leben (also auch im Westjordanland, möglicherweise selbst im Gaza-Streifen).
Von Elise Stefanik, der US-UNO-Botschafterin, ist eine Aussage bekannt, wonach Israel von den USA jederzeit all jene Waffen erhalten müsse, welche es sich wünscht. Der neue US-Botschafter in Israel, Mike Huckabee, spricht ausschliesslich von Judäa und Samaria, wenn es um die von Israel besetzten Gebiete geht und sieht «göttliche Kraft» am Werk, wenn israelische Siedler wieder einen neuen Vorposten im Westjordanland aufziehen. Präsident Trumps Nahost-Vermittler, Steve Witkoff, vertrat die Meinung, man könne das Palästinenserproblem dadurch lösen, dass man einen Teil der Palästinenser nach Indonesien ausschaffen würde.
Schliesslich meldete sich auch noch Trump persönlich mit einer Idee zu Gaza zu Wort: der Küstenstreifen sei ja total zerstört, meinte er, also wäre es wohl das Beste, man würde so etwa 1,5 Millionen Palästinenser für kürzere oder längere Zeit nach Jordanien und Ägypten umsiedeln.
Trump machte klar, dass sein Furor hinsichtlich Einsparungen (er stoppte eben alle Programme für internationale Entwicklung) Israel nicht treffen werde – an der Basis-Hilfssumme von 3,4 Milliarden soll ebenso wenig gerüttelt werden wie an den noch von der Biden-Administration zugesagten Waffenlieferungen im Wert von 18 Milliarden.
Keine «Vision» für ein Gaza nach dem Krieg
All das garantiert, dass Israel wirtschaftlich überlebensfähig und militärisch stark bleibt – so stark, dass es wieder Krieg führen kann im Gaza-Streifen (für den Fall, dass die Waffenruhe nicht verlängert wird) und auch, allenfalls, gegen den Erzfeind Iran. Nur: All das schafft nicht aus der Welt, dass das Kern-Problem lautet: Israel ist dazu verdammt, mit den Palästinensern eine tragfähige Grundlage für ein einigermassen konfliktfreies Nebeneinander zu finden. Und die Palästinenser sind dazu verdammt, auf Maximalforderungen, wie sie in der Ideologie der Hamas enthalten sind, zu verzichten.
Von solcher Einsicht sind beide Seiten noch weit entfernt. Es gibt immer noch keine «Vision» für ein Gaza nach dem Krieg. Auch keine für eine Entspannung im Westjordanland, im Gegenteil: Da stehen die Zeichen auf Sturm, da droht eine Eskalation und die Gefahr einer Situation, wie sie im Gaza-Streifen vor dem verhängnisvollen 7. Oktober 2023 bestand. Die Hamas-Ideologie breitet sich auch im Westjordanland aus – in der Form eines militanten Widerstands gegen den konsequent vorangetriebenen Ausbau israelischer Siedlungen und gegen die Unterstützung der Siedlerbewegung durch die Trump-Administration im fernen Amerika.