Ernst Scheidegger gehört zu den herausragenden Fotografen der Schweiz. Eines seiner Porträts von Alberto Giacometti ziert einen Hundert-Franken-Schein. Aber es kursieren von ihm nur wenige Fotos auf dem Buchmarkt. Ein Bildband und eine Ausstellung würdigen jetzt sein Werk.
Das Kunsthaus Zürich widmet Ernst Scheidegger derzeit eine Ausstellung und zeitgleich hat der Verlag Scheidegger & Spiess einen Bildband herausgebracht. Er gibt Einblicke in das Leben eines Künstlers von höchstem Rang. Aber der Betrachter und Leser erkennt nach und nach, dass sich aus heutiger Sicht ein solches Künstlerleben nicht so plakativ darstellt wie ein gut bebildeter Film. Es gibt Lücken und Fragen.
Freundschaft mit Werner Bischof
Wie einige der ganz grossen Fotografen der Schweiz ging auch Ernst Scheidegger durch die Schule von Hans Finsler, der an der Kunstgewerbeschule in Zürich die Fotoklasse leitete. Dort lernte er Werner Bischof kennen, der der erste Meisterschüler von Hans Finsler war. Die beiden freundeten sich an, zeitweilig wohnten sie in demselben Haus in Leimbach. Werner Bischof war für ihn Mentor und Freund zugleich. An der Kunstgewerbeschule lernte Ernst Scheidegger auch Max Bill kennen. Scheidegger arbeitete an dessen Ausstellung «Die gute Form» des Schweizer Werkbundes an der Mustermesse Basel mit. Danach übertrug Max Bill ihm die Leitung von fünf Wanderausstellungen, die im Rahmen des Marshallplanes stattfanden.
In der Ausstellung in Zürich und in dem Bildband nehmen die frühen Arbeiten von Ernst Scheidegger einen prominenten Platz ein. Alle Schwarzweissbilder beeindrucken mit ihrer klaren Komposition und dem Sinn des Fotografen für den «entscheidenden Augenblick», wie Henry Cartier-Bresson das Geheimnis des guten Bildes genannt hat. Der Betrachter spürt die Persönlichkeit des Fotografen hinter den Bildern.
In den 1950er Jahren fingen Fotografen wie Hans Schuh und Robert Frank an, sich von der Finsler-Schule zu lösen. Sie suchten expressivere Ausdrucksformen, die sie durch bewusste Regelbrüche erzielen wollten. Dazu gehörten Verzerrungen durch eigenwillige Perspektiven, Unschärfen, übermässig starke Kontraste oder Über- und Unterbelichtungen. Der bis heute ikonische Band mit Bildern dieser neuen Sichtweise ist «The Americans» von Robert Frank.
Paul Strand
Es mag sein, dass der strenge Formalismus der Finsler-Schule abgelöst werden musste. Aber für den heutigen Betrachter haben die früheren Bilder von Ernst Scheidegger gerade aufgrund ihrer stimmigen Komposition etwas Betörendes. Man denkt an diese Bilder, wenn sein Name erwähnt wird. Das ist ein sehr einseitiges Urteil, gewiss. Aber es ist auch interessant. Vor einigen Jahren, 2015, wurde Paul Strand im Fotomuseum Winterthur eine grosse Retrospektive gewidmet. Ein Fotokritiker bemerkte damals, dass das Frühwerk von Paul Strand mit seinem Spiel abstrakter Formen wesentlich origineller und interessanter sei als sein weiterer fotografischer Werdegang. Dieses Urteil war ganz sicher überspitzt, aber es enthielt ein Körnchen Wahrheit. Und so kann man bei allem Respekt fragen, ob nicht auch bei Ernst Scheidegger ein gewisser Schmelz des Frühwerks später so nicht mehr zu finden ist.
Ein spezielles Thema sind die Künstlerporträts. Hier hat Ernst Scheidegger einen eigenen Stil entwickelt. In seinen Bildern versuchte er, die Begegnung in den Ateliers sichtbar werden zu lassen. Seit dem Jahr 1943 machte er Aufnahmen von Alberto Giacometti in dessen Ateliers in Maloja, Stampa und Paris. Er veröffentlichte diese 1958 als Buch zusammen mit dessen autobiografischen und dichterischen Texten im Arche Verlag. Und ein Foto von Giacometti schmückte die 100-Franken-Banknote im Jahr 1998. Es stellt sich aber die Frage, ob auch heute noch die Porträts so sprechend sind, wie sie es damals gewesen sein mögen. Das wäre ein eigenes Thema.
Der Schicksalsschlag
Man soll biographische Umstände nicht überbewerten, aber bei Ernst Scheidegger gibt es einen Bruch, der auf sein fotografisches Schaffen ganz sicher eine Auswirkung gehabt haben muss. Im Jahr 1954 kam sein enger Freund Werner Bischof in Peru ums Leben. Er stürzte mit seinem Auto in den Anden in eine Schlucht. Über Werner Bischof wiederum war Ernst Scheidegger zur Fotoagentur Magnum gekommen und stand natürlich in engem Kontakt mit Robert Capa. Dieser weltberühmte Kriegsfotograf hatte für sich den Beschluss gefasst, keine Kriegsschauplätze mehr besuchen zu wollen. Ernst Scheidegger war wiederum für die arabische Welt und den fernen Osten zuständig. Nun stand im Jahr 1954 die Begleitung der ersten Indienreise von Nikita Chruschtschow auf dem Programm der Agentur. Die übernahm Scheidegger, und notgedrungen sprang Robert Capa für die aktuelle Berichterstattung aus Korea ein. Dabei trat er auf eine Mine und starb.
Ernst Scheidegger war so erschüttert, dass er sich beruflich neu orientierte. Sein Lehrer und Förderer Max Bill verschaffte ihm in Ulm an der neuen Hochschule für Gestaltung eine Stelle als Dozent. Aber das war nur eine Unterbrechung. Ab 1957 bereiste er wieder die Welt als Reportagefotograf. Im Jahr 1960 wurde Scheidegger als Nachfolger von Gotthard Schuh Leiter der Wochenendbeilage der Neuen Zürcher Zeitung.
Vorliebe für Wüsten
Bis 1988 entstanden mehr als 200 Bildreportagen Scheideggers. Dazu besuchte er unter anderem Marokko, Saudi Arabien, den Jemen, Oman und den Sudan. In dieser Zeit tat er sich häufiger mit dem Nahost-Korrespondenten der NZZ, Arnold Hottinger, zusammen. Hottinger bemerkt, dass Scheidegger eine besondere Vorliebe für Wüsten hatte. Das erinnert an seine fotografische Schule der strengen formalen Gestaltung bei Hans Finsler. Aber Hottinger betont auch, wie sehr es Scheidegger darauf ankam, ein empathisches Bild von den Menschen zu vermitteln.
Von diesen Reportagen finden sich in dem Band von Scheidegger & Spiess keine Bilder. Dafür gibt es eine Bildstrecke aus der nordindischen Stadt Chandigarh von 1956. Sie geben Architektur wieder, und man hat den Eindruck, dass Ernst Scheidegger bei diesen Bildern wieder ganz bei sich ist. Da schliesst sich der Kreis.
Ernst Scheidegger Fotograf. 248 Seiten, 12 farbige und 168 schwarzweisse Abbildungen. Scheidegger & Spiess, Zürich 2023, 59 CHF