„‚Machen Sie sich bereit. Sie kommen mit uns.‘ Die Augen des Einsatzleiters wanderten ungläubig zwischen mir, meinem Ausweis und dem offiziellen Schreiben in seiner Hand hin und her. Eine Zeit lang wurde herumtelefoniert.“ – Es war der 19. August 2017. Eine mit Maschinenpistolen bewaffnete Spezialtruppe spanischer Polizisten stand frühmorgens auf der Türschwelle eines Hotelzimmers in Grenada.
Kafkaeske Erfahrung
Zuvor hatten sie das Hotel räumen lassen. Vor ihnen ein zerbrechlich wirkender 60-jähriger Mann aus Deutschland. Es war der Kölner Schriftsteller und Menschenrechtler Doğan Akhanli. Auf Ersuchen Erdoğans nahmen sie ihn fest und brachten ihn in das 420 Kilometer entfernt gelegene Gefängnis in Madrid.
Für Doğan Akhanli war es eine kafkaeske Erfahrung: Einen Tag zuvor hatte er gemeinsam mit seiner Freundin das Haus des aus Granada gebürtigen Lyrikers Lorca besucht. Dieser war auf den Tag genau 61 Jahre zuvor in Grenada inhaftiert und ermordet worden. Seine sterblichen Überreste sind bis heute nicht gefunden worden.
Doğan Akhanlis Freundin wird nicht festgenommen. Sie vermag den armenischstämmigen Kölner Rechtsanwalt Ilias Uyar zu informieren. Zwei Stunden später hatten „wir“ die Weltpresse informiert. Noch am gleichen Tag kommt Akhanlis Freund Uyar in Madrid an. Und ein hochkarätiger, deutschsprechender spanischer Jurist, Gonzalo Boye, besuchte Doğan wenige Stunden später im Gefängnis. Er war erst kurz zuvor in Spanien gelandet. Das internationale Rettungswerk für den Schriftstellerr und Menschenrechtler Doğan Akhanli – denn darum handelte es sich – lief an. Sein Gelingen war eine einzige Ansammlung von glücklichen Zufällen. Akhanlis Freiheit hing erneut am seidenen Faden.
Völkermord an den Armeniern
In intellektuellen Kreisen in der Türkei ist Akhanli schon lange sehr bekannt. Er hat mehrere Romane über die türkische Geschichte, die vor allem eine Geschichte der Gewalt ist, veröffentlicht. Sein Roman „Der Richter des jüngsten Gerichts“ war das erste türkische Buch, das den türkischen Völkermord an den Armeniern literarisch aufgearbeitet hat. Ein absoluter Tabubruch. Es bringt Akhanli den Hass Erdoğans und der übrigen türkischen Geschichtsleugner ein. Hierfür hat Akhanli einen sehr hohen Preis bezahlt: Er wird mehrfach inhaftiert und schwer gefoltert. 1992 flieht Dogan Akhanli mit seiner Ehefrau und seinen Kindern nach Köln. Und nun diese erneute willkürliche Festnahme, mitten in Europa.
Nach einem Tag – der für Doğan Akhanli ein schweres Trauma darstellte: seine früheren Traumatisierungen brachen wieder auf – wird er freigelassen. Er darf Madrid jedoch zwei Monate lang nicht verlassen, muss sich wöchentlich bei der Polizei melden. Seine Auslieferung in die Türkei war jederzeit möglich. Das deutsche Goethe-Institut bietet ihm ein Gästezimmer an. In diesen zwei Monaten schreibt Doğan Akhanli trotz der freigesetzten Ängste ein faszinierendes, humorvolles und doch zugleich sehr trauriges Buch. Es ist mit „Verhaftung in Granada oder Treibt die Türkei in die Diktatur?“ betitelt: Er schreibt über seine Jahrzehnte überdauernden Verfolgungserfahrungen, die zugleich eine türkische Gewaltgeschichte sind; über die Folter, aber auch über seine unglaublichen Glückserlebnisse und Freundschaften. „Ich bin ein Glückspilz“, notiert er ganz am Ende.
Die Szene seiner Freilassung nach einem Tag Untersuchungshaft erzählt Doğan Akhanli so: „Ich wurde aus dem Saal geführt. Ich war zwar frei, aber das schützte mich nicht davor, erneut in Handschellen gelegt zu werden. Ihr seid ja schlimmer als die Türken, hätte ich gern angemerkt, aber dann wäre ich Gefahr gelaufen, von meinen linken Freunden in Köln des Rassismus bezichtigt zu werden, wenn sie davon erfahren hätten. Also schwieg ich.“
Eine frühe Festnahme
Achtzehnjährig wird der 1957 in der Osttürkei Geborene erstmals festgenommen und schwer misshandelt. Er hatte eine legale linke Tageszeitung gekauft. Das genügt. Die Konfrontation mit dem Unrecht radikalisiert ihn, wie viele andere. Er schliesst sich einer radikalen linken Gruppierung an – „die inzwischen“, so merkt er in seinem Buch an, „zu einer nationalistischen, antisemitischen, den Genozid an den Armeniern vehement leugnenden, provokativen Bewegung geworden ist.“ Doğan Akhanli schreibt gelegentlich mit Zorn, überwiegend jedoch mit Ironie und einer inspirierenden Leichtigkeit und Fröhlichkeit. Seine Verhaftung „hat den Verlauf meines Lebens verändert“, bemerkt er lakonisch.
Bald muss der junge Intellektuelle mit seiner Frau Ayse untertauchen. Ihre Namen sind bekannt, sie müssen mit gefälschten Papieren in einer weit entfernt gelegenen Stadt Schutz suchen: „In Trabzon waren wir eine Handvoll Studenten und Lehrer, die noch auf freiem Fuss waren. Wir waren eher ums Überleben bemüht, als dass wir uns politisch betätigt hätten.“
In dichter Weise erzählt Akhanli von seinem Leben im Untergrund, seinen damaligen Freundschaften. Einige hiervon sollte er Jahrzehnte später im Kölner Exilantenmilieu wieder aufleben lassen: „Die Nächte gehörten uns. Wir tranken nicht, wir rauchten so viel, dass uns gegen Mitternacht die Augen tränten von dem Qualm. In den schlaflosen Nächten wälzten wir die Probleme dieser Welt, von China über Kanada bis hin zu Südafrika und Finnland.“
Der Tod der Mutter
Nach seiner Flucht nach Deutschland im Jahr 1992 kann er seine Eltern nicht mehr besuchen. Seine Sehnsucht nach ihnen, die sich mit der Trauer des Exils verknüpft, wird immer stärker.
Und doch nährt hat ihn die Erinnerung an seine liebende, belesene Mutter: „Nachmittags sammelte sie uns Kinder um sich und las uns vor. Als ich mit zwölf Jahren das Dorf verliess, um aufs Gymnasium zu gehen, war ich auf all das fremde Leben vorbereitet.“
Regelmässig macht sie Leseabende für die ganze Familie: „Das erste Buch, das wir im Familienverband lasen, war, ich erinnere mich wie heute, Les Misérables. Vor dem Einschlafen sprachen wir darüber und nahmen Anteil an Glück und Leid der Helden der Geschichte. Ich erinnere mich wie heute, dass Mutter, meine Schwester und eine Nachbarin einen Romanlesewettbewerb veranstalteten. Als wir Steinbecks Früchte des Zorns ausgelesen hatten, hatte Mutter gesagt, hoffentlich wird unsere Familie nicht so auseinanderbrechen wie die im Buch.“
In den Jahren nach seiner Flucht trifft er sich in Köln sehr häufig mit seinen Schicksalsgenossen Adnan und Nese Keskin. Gemeinsam vermögen sie das Schicksal des Heimatverlusts, der Vertreibung besser zu ertragen. Gelegentlich telefoniert er mit seinen Eltern. 1993, ein Jahr nach seiner Flucht, hört er mehr zufällig vom Tod seiner Mutter. Seinen Schmerz vermag er nicht zu ertragen. Und doch sind seine Tränen für Jahrzehnte eingetrocknet:
„Als ich Nese berichtete, was geschehen war, weinte sie. Ich weinte nicht. Und weil ich nicht weinen konnte, drohte mich mein schlechtes Gewissen zu ersticken. Etwas Unbegreifliches hatte sich zugetragen. Ich steckte eine Weile in einer merkwürdigen Leere fest, in der ich aus tiefster Seele ahnte, dass das ein Wendepunkt meines Lebens war.“
Und wenige Zeilen später fügt Doğan hinzu: „Ich betrank mich bis zur Besinnungslosigkeit, und weil ich nicht mehr laufen konnte, übernachteten wir bei Adnan und Nese.“ Eigentlich hatte er seine Mutter für unsterblich gehalten.
Der Tod des Vaters
Im Jahr 2010, 18 Jahre nach seiner Flucht nach Deutschland, besucht Akhanli noch einmal die Türkei, um von seinem todkranken Vater Abschied zu nehmen. Noch am Flughafen wird er festgenommen. Vier Monate lang wird Doğan Akhanli im Sommer 2010 in einem Hochsicherheitsgefängnis festgehalten und mit einem grotesken Mordvorwurf bedroht. Alle Beteiligten wissen von der Unhaltbarkeit der Anklage.
Aufgrund einer internationalen Unterstützerkampagne wird er wieder freigelassen, besucht noch einmal sein Dorf in der Osttürkei, das Grab seiner Eltern. Akhanlis Beschreibungen seiner Gespräche mit den Polizisten und Gefängnisaufsehern, denen er begegnete, sind in ihrer ironischen Grundhaltung und ihrem grotesken Charakter faszinierend und vermitteln eine ungeheuerliche Leichtigkeit. Akhanli wird beschuldigt, Chef einer Untergrundorganisation zu sein, die gar nicht existiert: Sein Verhörgespräch beschreibt er so:
„‚Ich gehöre keiner Organisation an‘, sagte ich. ‚Aber das geht nicht, mein Herr, hier können wir keinen ohne Organisation aufnehmen.‘ (...) Die anderen Beamten hatten sich bereits um uns versammelt. Jeder gab seinen Senf dazu. Einer sagte: ‚Schreib PKK und fertig. Guck doch, sieht wie’n Kurde aus.‘“ Schliesslich nimmt man ihn doch als politischen Gefangenen auf, obwohl er nur noch einen deutschen Pass hat: „‚Dich können wir hier nicht aufnehmen, Dogan Bey‘, sagte er. ‚Wir nehmen hier keine Ausländer auf.‘“
Schuldgefühle
Vor Gericht schweigt Doğan, erstmals. Den Tod seines Vaters während seiner Haftzeit vermag er ihnen nicht zu verzeihen. „Ich hatte jegliche Professionalität verloren.“ Und: „Der Tod meines Vaters wurde für mich zu einem nicht wiedergutzumachenden Verlust, zu dem Punkt, wo Worte fehlen. (...) Ich entscheide mich in allen Phasen des Prozesses für ein absolutes Schweigen.“
Seine Schuldgefühle gegenüber seinen beiden Kindern, über die er im Buch mehrfach und sehr aufrichtig schreibt, erlebt er als übermächtig. Beide hatten ihn beim Abschied am Flughafen, im Sommer 2010, vor der Reise gewarnt: „Ich hatte ihre Ängste nicht ernst genommen und alles getan, um ihre Versuche, mich von der Reise abzuhalten, im Keim zu ersticken.“
Sein Sohn, so erfährt er im Gefängnis, hat sich „seit meiner Festnahme völlig zurückgezogen und will niemanden sehen“. Dogan unternimmt einen verzweifelten Bewältigungsversuch: „Ich brauchte einen Gegner, mit dem ich es aufnehmen konnte. Wieder in der Zelle, würde ich das Rauchen aufgeben.“
Drei Jahre nach seiner Rückkehr nach Köln, als der kafkaeske Prozess in seiner Abwesenheit neu aufgelegt wird, bricht Doğan Akhanli endgültig mit der Türkei. Dieses Land ist nicht mehr seine Heimat. Er wird nie wieder türkischen Boden betreten. Erst seitdem hat Dogan Akhanli wirklich Deutsch gelernt.
Schreiben als Rettung
Als Schriftsteller hat Doğan sich nie kleinkriegen lassen. Das Schreiben war seine Rettung. Nach seiner Freilassung Ende 2010 veröffentlicht er auf Türkisch den Roman „Fasil“: Es ist eine literarische Abhandlung über die Folter, sowohl aus der Sicht des Opfers als auch des Täters geschrieben. Eine schmerzhafte Wiedererinnerung an seine eigenen brutalen Foltererfahrungen, denen er von 1985 bis 1987 als politischer Häftling ausgesetzt war. Er wurde in Anwesenheit seiner Frau und seines eineinhalbjährigen Sohnes gefoltert. Das Gefängnis trug in den Gesprächen der Gefangenen den Namen Sibirien.
Vorsichtig, voller Ambivalenz beschreibt Akhanli einige dieser Foltererfahrungen, einen Teil lässt er weg, um den Leser zu schonen. Auch seine Frau Ayse wurde in Anwesenheit des Sohnes misshandelt, um Doğan zum Reden zu bringen: „Als man sie zurückbrachte, war Ayse um hundert Jahre gealtert. Ich weiss nicht, wie sie mich gesehen hat. Ich habe sie auch später nicht gefragt.“ Die Foltererfahrungen hat dieser optimistische und liebevolle Mensch nie mehr zu verdrängen vermocht: „Was gäbe ich dafür, jenen Ort aus meinem Gedächtnis löschen zu können.“ Seine Widerstandstätigkeit als Familienvater bezeichnet er als seinen grössten Fehler, als „ungerecht und verantwortungslos“ gegenüber seinen Kindern: „Es wäre viel besser gewesen, nach dem Putsch einen persönlichen, individuellen Weg des Widerstands zu finden und mich statt der politischen Tätigkeit der Literatur zu widmen.“
In dichter Form erzählt Akhanli von seinen Freundschaften zu Weggefährten, vor allem zu dem kürzlich verstorbenen Schriftsteller Adnan Keskin. Sein Jugendfreund Keskin, der vor ihm nach Köln hatte fliehen können, rettete ihn aus der Türkei: „In Köln setzten wir unsere inzwischen enger gewordene Freundschaft fort, als seien keine fünfzehn Jahre vergangen. Es wurde mir in Köln zur Gewohnheit, sonnige Sonntage bei Adnan und Nese zu verbringen. Dann assen wir den schmelzigen Käse der Region Savsat, in der wir geboren waren, und sprachen von der Heimat, den alten Tagen und Freunden. Beide waren wir heimwehgeplagt. Und beide waren wir herzkrank, ohne es zu wissen.“ Adnan Keskin starb Anfang 2014 an Herzversagen. Einen Arzttermin hatte er immer wieder hinausgeschoben. Ein Jahr zuvor war bei Doğan Akhanli bei einem routinemässigen Arztbesuch in Hamburg eine schwere Herzerkrankung festgestellt worden. Er musste sofort operiert werden und muss seitdem Medikamente nehmen.
Die Shoah als existentieller Bezugsrahmen
Die Shoah wird in Deutschland zu Doğan Akhanlis wichtigstem Bezugsrahmen. Bereits in seinem Roman „Der letzte Traum der Madonna“ (2005) hatte der Schriftsteller die Geschichte des jüdischen Flüchtlingsschiffes Struma nacherzählt; die Struma wurde 1942 mit ihren 700 Passagieren im Schwarzen Meer versenkt.
In den vergangenen zwanzig Jahren hat Doğan Akhanli immer wieder nationale Ethnien überschreitende Versöhnungsprojekte vorangetrieben, um an die beiden grossen Völkermorde zu erinnern. Er erinnert an die hellsichtige Formulierung des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix, dass „die Deutschen den Juden die Shoah niemals verzeihen werden.“ Und er arbeitet in Köln mit der israelisch-deutschen Künstlerin Mona Yahia und der armenischen Pianistin Nare Karoyan in Erinnerungsprojekten zusammen.
„Ich begnügte mich nicht damit, Bücher über den Holocaust zu lesen. Ich kam kaum noch aus der Judaica-Abteilung der Kölner Stadtbibliothek heraus. Ich las Erinnerungen von Überlebenden. Und zur Jahrtausendwende besuchte ich schliesslich jenen Ort, der, so empfand ich es, nicht zu dieser Welt gehören sollte: Auschwitz.“
Treibt dieTürkei in die Diktatur?
Der Untertitel des Buches lautet: „Treibt dieTürkei in die Diktatur?“ Akhanli beschreibt den Mord an dem armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink am 19.01.2007 in Istanbul eindrücklich als die historische Zäsur für die Geschichte der Türkei, wie auch die Proteste Hunderttausender danach. „Wir sind alle Hrant Dink. Wir sind alle Armenier“, hallte es nach dessen Beerdigung durch die Strassen Istanbuls. Dies war eine historische Zäsur in der Geschichte der Türkei. Das Bekenntnis war wohl auch eine „Entschuldigung für das Schweigen angesichts jahrzehntelanger Lüge und Leugnungen“. Ohne eine Aufarbeitung der Geschichte, ohne eine Erinnerung an die Gewaltverbrechen sei kein Fortschritt möglich. Viel Hoffnung auf eine auch nur halbwegs demokratische Türkei hat Akhanli nicht:
„Erdoğan hat im Jahre 2013 begonnen, Merkmale typischer faschistischer Diktaturen der Dreissigerjahre anzunehmen.“ Und Erdoğan müsse „den Putschplan vom 15. Juli 2016 erahnt haben“, formuliert Akhanli diplomatisch.
Trotz dieser düsteren Passagen legt Doğan Akhanli ein wunderbares, leichtes, berührendes, spannendes Werk vor.
Doğan Akhanli: Verhaftung in Granada oder: Treibt die Türkei in die Diktatur. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 222 Seiten.