War das alles wirklich ernst oder nur ein dummer Scherz, was die beiden deutschen Schwesterparteien CDU und CSU während der vergangenen Wochen dem teilweise amüsierten, teils fassungslosen, zumeist jedoch empörten Publikum vorgeführt haben? Vordergründig ging es um die Frage, wie Deutschland in Zukunft mit dem weiteren Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden aus den nahöstlichen Kriegs- und afrikanischen Hungergebieten umzugehen gedenke.
Indes zeigte sich sehr rasch, dass die eigentlichen, tiefen Hintergründe für die erbitterten Auseinandersetzungen ganz woanders lagen und wohl auch weiterhin liegen werden – in der inzwischen wohl nicht mehr zu kittenden Abneigung der Hauptakteure und der Sorge um den Ausgang der im Oktober anstehenden Landtagswahlen vor allem in Bayern. Um es konkret beim Namen zu nennen: die einander mit allerherzlichster gegenseitiger Abneigung zugeneigten Angela Merkel und Horst Seehofer.
Drei Jahre lang nur Palaver
Rekapitulieren wir einen Moment: Im Herbst 2015 strömten Hunderttausende von Kriegsflüchtlingen vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Europa. Unter dem Druck dieses Ansturms (und den Bildern von den Zuständen unter anderem auf dem Budapester Bahnhof) verzichteten Deutschland und Österreich auf Kontrollen an den Grenzen. Ergebnis: Noch heute wird, mit nur mässigem Erfolg, versucht, herauszufinden, wer im einzelnen sich im Lande aufhält und wie sich die innere Sicherheitslage dadurch verändert hat. Keine Frage, die dadurch entstandenen Herausforderungen waren (und sind es noch immer) gewaltig. Allen voran die finanziellen. Es fehlen Wohnungen, wodurch sich das Problem auch für schlecht bezahlte Deutsche zusätzlich verschärft, dazu blockieren Sprachmängel, Religions- und Mentalitätsunterschiede Bildungs- und Arbeitschancen. Die Liste liesse sich noch lang fortsetzen.
Seit dem Herbst 2015 ist, keine Frage, unendlich viel geleistet worden. Von staatlicher Seite, besonders aber auch durch die ungezählten freiwilligen Helfer und Initiativen. Nur eines ist in den drei Jahren nicht passiert: Eine wirklich durchgreifende Neuausrichtung der deutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik, die rechtlich und polit-moralisch immer noch ausgerichtet ist auf die Situation im zerbombten Nachkriegsdeutschland, in dem ganz gewiss niemand das Ziel seiner Sehnsüchte sah. Drei Jahre lang praktisch nur Palaver. Aber das Thema war ja nicht verschwunden. Jeder einzelne Fall von Kriminalität, jedes Versagen (wie in Bremen) staatlicher Prüfungsorgane trug vielmehr dazu bei, die Gräben zwischen den zu politischem Handeln Gewählten und (zumindest grossen Teilen) der Bevölkerung zu verbreitern. Egal bei welchen Gelegenheiten – man konnte förmlich mit den Händen greifen, wie sich die Stimmung zuspitzte.
Abstrafung an den Urnen
Und die Bürger straften die Politiker ab. Gnadenlos. Vor allem die beiden Volksparteien CDU/CSU und SPD. Bei der Bundestagwahl im Herbst vorigen Jahres. Die Sozialdemokaten rutschten unter 20 Prozent, und in Bayern sieht die über Jahrzehnte von Erfolgen verwöhnte CSU ihre absolute Mehrheit in Gefahr. Diese Erinnerung erscheint notwendig, weil darin auch die Ursachen für jene chaotischen Vorgänge und Zustände liegen, die im Frühjahr zunächst die Sozialdemokraten und anschliessend die Unionsparteien so heillos durcheinander wirbelten. Und zwar nicht nur wegen deren eigenen Verlusten. Sondern wegen der grossen Zugewinne der ganz rechtsaussen fischenden Alternative für Deutschland (AfD). Vor drei Jahren war dieses ursprüngliche Sammelbecken für Allgemein-Unzufriedene, EU- und Eurokritiker praktisch bereits in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Dann kam mit einem Mal die Flüchtlingskrise, und der heutige Parteichef, Alexander Gauland, konnte zu Recht jubeln: „Die hat uns der Himmel geschickt.“
Das gilt bis heute. Als im November 1976 die CSU, noch unter Franz-Josef Strauss, schon einmal vorübergehend die Fraktionsgemeinschaft mit der grossen „Schwester“ aufkündigte, geschah dies noch unter der Prämisse, dass neben ihr keine zählbare rechte Kraft entstehen dürfe. Mit der AfD ist heute eine solche längst da. Dass der jetzt verkündete Asyl- und Flüchtlings-„Kompromiss“ hier wirklich Veränderungen bewirkt, erscheint mehr als zweifelhaft. Wäre die Lage nicht tatsächlich ernst, böte sich dieser „Erfolg“ des Berliner Unions-Gipfels wunderbar als Thema für eine Satire an. Schliesslich lag der Vorschlag, „Transitzentren“ mit Schnellentscheidern an den Grenzen einzurichten, bereits mehrmals auf dem Tisch. Damals wurde er vom SPD-Koalitionspartner empört abgelehnt. Heute nicken ihn dieselben Sozialdemokraten ergeben ab. Warum? Na klar, weil sie natürlich grosse Angst vor Neuwahlen haben, die bei einem Scheitern des augenblicklichen schwarz-roten Bündnisses in Berlin vermutlich unausweichlich wären.
War das alles wirklich nötig?
Das alles wusste jeder, der sich für deutsche Politik interessiert, nicht erst seit dem Ausbruch des Gemetzels zwischen den Unions-Schwestern. War also das Getöse mit all den Drohungen, Ultimaten, persönlichen Beleidigungen und Anzeichen von Untergangs-Sehnsucht wirklich nötig? Jetzt streiten sie schon wieder. Wer hat sich durchgesetzt, wer gewonnen? Der „eiserne“ Seehofer oder die coole Angela Merkel? Es ist ein Streit wie um des Kaisers Bart. Denn in der Sache ist bislang ja noch überhaupt nichts erreicht worden. Nur an der deutsch-österreichischen Grenze sollen „Transitzentren“ errichtet werden. Dort sind (anders als an den deutsch-belgischen und deutsch-französischen Übergängen) in diesem Jahr ganze 349 (!) Personen aufgegriffen worden, die bereits in Italien, Griechenland oder einem anderen EU-Staat erfasst worden waren. Viel Lärm also um vielleicht nur Symbolhaftes. Ausserdem müssen die Nachbarländer ja auch noch zustimmen …
Tatsächlich sind auch nach der so genannten Einigung an der Spree mindestens noch genauso viele Fragen offen wie (vielleicht) beantwortet. Horst Seehofer will also doch Innenminister bleiben. Wie freilich eine künftige Kooperation eines der wichtigsten Ressortchefs auf Bundesebene mit ausgerechnet der Kanzlerin vonstatten gehen soll, die er zuvor immer wieder bis hin zur direkten Beleidigung anging, gehört zum Geheimnis dieser zwei Alpha-Personen. In Wirklichkeit waren es ja auch nicht sie und ebenso wenig deren Entourage, die das drohende Auseinanderbrechen der gemeinsamen Bundestagsfraktion verhinderten. Dieses Verdienst gehört vielmehr den Abgeordneten, die sich in seltener Einheit hinter der selbst benannten Maxime versammelten: „Wir verbieten Euch, diese Volkspartei CDU/CSU zu zerstören, die immerhin über mehr als sieben Jahrzehnte dieses Land geprägt, stabil gehalten und vorwärts gebracht hat.“ Dieser gemeinsame Erfolg sollte – ja müsste – dem Parlament eigentlich zusätzliches (vielleicht seit langem nicht mehr gekanntes) Selbstbewusstsein einimpfen.
Bayern ist anders geworden
Das Zittern von CSU-Chef Seehofer sowie dessen langjährigem Gegenspieler und Nachfolger im Amt des Münchener Ministerpräsidenten, Markus Söder, vor dem Verlust der absoluten Landtagsmehrheit im Herbst, hat im Übrigen seinen Grund keineswegs nur im beunruhigenden Aufwachsen der AfD. Bayern ist vielmehr im Verlauf der Jahre strukturell deutlich anders geworden. Der Freistaat zwischen Alpen und Spessart steht an der Spitze der deutschen Bildungs- und Hochschulpolitik, ist führend im Bereich der Zukunftsindustrien, hat sich – ungeachtet der immer noch gern gepflegten Lederhosen-Traditionen – längst verabschiedet von der landwirtschaftlichen Abhängigkeit und Almenrausch-Seligkeit. Dasselbe gilt für die locker gewordene Bindung an die katholische Kirche und deren früher gepflegte Wahlempfehlungen vor allem im ländlichen Bereich. Kein anderes Bundesland verzeichnet eine solche Attraktivität für Zuzügler.
Das hat natürlich Auswirkungen auch auf das Wahlverhalten. Zugespitzt könnte man sagen, dass die CSU möglicherweise das Opfer ihrer erfolgreichen Bildungs- und Wirtschaftspolitik werden könnte. Und, ob man es glaubt oder nicht, auch dieser Aspekt ist ein Teil des Trubels mit und um Horst Seehofer. Denn längst haben sich in München die Bataillone um Ministerpräsident Markus Söder und den Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, versammelt. Jeder von ihnen möchte „den Horst“ als Parteichef beerben. Sie haben Zeit und warten ab. Sie wissen, am Berliner Kabinettstisch sitzen Seehofer und Merkel in herzlichster gegenseitiger Abneigung vereint. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.