An Goethes geradezu lebenslanger Beschäftigung mit der Figur des Doktor Faust arbeiteten sich Komponisten seit der Romantik unermüdlich ab. Sein «Faust I» und «Faust II» waren dramatische Würfe, die als Steilvorlagen für ganz unterschiedliche musikalische Formen herhalten konnten. Vom Lied zur Ouvertüre und zur Symphonie, von ausgewählten szenischen Vertonungen bis zur Gesamtoper.
Schubert, Schumann, Wagner, Liszt, Mahler, Berlioz, Gounod, Boito, Busoni, Schnittke heisst die illustre Reihe von Tonsetzern, die sich neben vielen eher vergessenen Komponisten mit der Figur des Doktor Faustus abgemüht haben. Begonnen hat es mit der Popularität des gelehrten Magiers und Astrologen Faust schon lange vor Goethe. Der «historische Faust» lebte wohl zwischen 1480 und 1540. Im Jahr 1587 wurde das sogenannte Volksbuch «Historia von D. Johann Fausten» gedruckt, mit dem bereits wichtige Elemente der Faustthematik – wie etwa der Pakt mit dem Teufel – über diesen halb als Gelehrten, halb als Scharlatan sich präsentierenden Doktor populär wurden.
Die Variante von Hector Berlioz
Berlioz fing früh Feuer für die Gestalt dieses dubiosen Menschen aus deutschen Landen. Die 1828 erschienene französische Übersetzung von Teilen von Goethes Faust war zwar nicht die erste, aber doch die wirkmächtigste und poetischste. Sie stammte vom jungen Gérard de Nerval, teils in Prosa, teils in Gedichtform. Der 25-jährige Berlioz begeisterte sich sofort für diese gefühlsstarke Poesie und machte sich an die Vertonung von «Huit scènes de Faust», deren Partitur er auch gleich stechen liess und sie 1829 nach Weimar an Goethe schickte, ohne von diesem oder von dessen musikalischem Berater Zelter je eine Antwort zu erhalten. Die Musiksprache von Berlioz war wohl den zwei alten Herren – sie orientierten sich am Strophenlied und verfügten über eingeschränkte musikalische Vorstellungskraft – zu ungestüm und unausgegoren.
Aber die Figur des Faust liess Berlioz nicht wieder los. 1845–46 auf einer Reise nach Österreich und Ungarn entschloss sich Berlioz, nur noch halb an Goethe sich orientierend, eine eigene Version von «La damnation de Faust» zu komponieren, wobei er die frühen Skizzen für seinen «Faust auf Höllenfahrt» wiederverwendete und um zentrale Elemente seiner Vision der Faustfigur ergänzte. Die im Dezember 1846 in der «Opéra comique» zur Aufführung gebrachte Version war «nur» konzertant; das Publikum blieb diesem Versuch gegenüber seltsam kühl.
Die Faust-Musik von Berlioz, die er später als eine «Légende dramatique» bezeichnete und von deren Qualität der Komponist selbst felsenfest überzeugt war, fand erst 1893, also 24 Jahre nach Berlioz’ Tod, in Monte Carlo ihre szenische Realisierung. Heutzutage gehören sowohl konzertante wie szenische Aufführungen von «La damnation de Faust» zu den grossen Erlebnissen visionär-romantischer Musiktheaterkunst aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Ein Werk in vier unterschiedlichen Teilen
Berlioz lässt seine Faustgeschichte in einer Ebene Ungarns beginnen mit einem Sonnenaufgang in einer zunächst friedlich scheinenden Natur. Wir hören auch eine Bauernmusik, die Lebens- und Frühlingsfreude aufkommen lässt. Der Winter ist vorbei, jetzt soll gefiedelt und getanzt werden! Berlioz baut hier ein rein instrumentales Stück ein: den Rákòczy-Marsch, den er zum Gedenken an den Freiheitskampf der Ungarn gegen die Habsburger komponiert hatte und hier in seiner Faust-Musik nicht missen wollte. Veränderung, ja Revolution ist angesagt!
Im zweiten Teil finden wir Faust in seiner Studierstube. Alles andere als mit sich im Reinen, will er seinem Dasein ein Ende bereiten – bis ihn die Osterbotschaft erreicht und die Erde ihn wiederhat. Eine Osterhymne erquickt sein Gemüt. Die Phiole mit dem Gift ist vergessen. Da findet sich Mephistopheles ein, der Fausts Glauben an Heilsbotschaften verhöhnt und ihm alle Vergnügen und Genüsse der Welt verspricht, wenn er sich ihm anvertraue und seine staubigen Bücher vergesse. Auf einem Zaubermantel fliegen die beiden davon und landen in Auerbachs Keller. Hier wird gefeiert und gesoffen, man singt Balladen und Lieder über Ratten und Flöhe. Doch bald ist Faust des faden und trivialen Genusses überdrüssig.
An den Ufern der Elbe singen Geisterstimmen – Sylphen und Gnome – Faust in einen traumartigen Schlaf. Dabei tritt ihm zum ersten Mal die Gestalt Margarethes entgegen. Jetzt hat er nur noch einen Wunsch: in ihre Nähe zu gelangen.
Der dritte Teil spielt denn auch in ihrem Gemach, wo Faust vollkommen dem Zauber ihrer Natürlichkeit verfällt. Hier erklingt auch Margarethes Ballade vom König in Thule. Mephisto veranstaltet mithilfe von Irrlichtern einen schwindelerregenden Liebestanz, in welchem Faust und Margarethe einander vollkommen verfallen. Mephisto organisiert einen Aufstand des Pöbels gegen den Ruf des unbescholtenen Mädchens, dargestellt in einem regelrechten Spottchor, sodass sich Faust aus Gretchens Kammer auf und davon machen muss.
Der vierte Teil bringt zuerst die Romanze der Margarethe (Goethes «Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer ...»). Faust hat sich in eine Höhlenlandschaft zurückgezogen und sinniert über die Geheimnisse der unerforschlichen Natur. Mephistopheles bringt ihm die Nachricht, Margarethe habe in ihrer gemeinsamen Liebesnacht ihre eigene Mutter mit Gift ermordet. Sie sei nun im Gefängnis und könne nur gerettet werden, wenn Faust ihm zuvor seine Seele verschreibe. Nicht zu Margarethe führt Mephisto aber Faust, sondern in einem pandämonischen Ritt durch schwarze Vogelscharen, klappernde Gerippe und einen Blutregen geradewegs in die Hölle, wo die vereinten bösen Geister ihm einen Empfang in einer rätselhaft unverständlichen Höllensprache bereiten.
Bei Berlioz endet Faust also in der Tat in der Verdammnis. Faust ist hier nicht wie bei Goethe die Verkörperung eines suchenden, das Dasein begreifen wollenden Individuums. Bei Berlioz ist Faust eher die Idee eines romantischen Genies, welches das Leben in seinen göttlichen und seinen dämonischen Dimensionen erfassen möchte.
Die allerletzte Szene des Werkes nennt sich aber «Apothéose de Marguerite»: die Verklärung der Margarethe. Ein Chor seliger Geister und ein Kinderchor begrüssen die liebende Seele, die zu himmlischen Gefilden aufsteigt. Goethes «Stimme von oben» am Ende der Kerkerszene von «Faust I», die da verkündet: «Ist gerettet!», lautet in der Version von Berlioz: «Viens, Margarita, Viens! Viens! Viens! Viens!».
Liebeszauber pur
Es dürften wenig Zweifel darüber bestehen, dass Franz Schuberts Vertonung von Goethes «Gretchen am Spinnrad» aus dem Jahr 1814 ein dichterisches wie musikalisches Juwel der Sonderklasse aus der deutschen Frühromantik darstellt. Nun kommt aber ein hochbegabter französischer Dichter, 14 Jahre später, und übersetzt diesen Gefühlsüberschwang einer jungen Frau, die zum ersten Mal Liebe und Leidenschaft erlebt, kongenial in französische Verse. Darauf wartet ein französischer Komponist, den es 1846 drängt, die Musik seiner Zeit für diesen Ausbruch von Aufregung, Verwirrung, Unsicherheit, aber auch von Sehnsucht, Liebes- und Hingabebereitschaft zu finden, und dies alles in eine betörende musikalische Romanze einfliessen zu lassen.
Unter den vielen Liebesszenen in Berlioz Gesamtwerk ist dies eine der ergreifendsten. Er komponiert einen eigentlich nicht abschliessbaren Dialog zwischen einer vor sich hinträumenden Stimme mit einem Englischhorn als Initiant und Sekundant, begleitet von sanften Streichern, die dazwischen die Erregungen der liebenden Frau übernehmen. Dies aber so, als könnte die Seligkeit von Glücksempfindungen, so unerhört neuartig diese sich auch anhören mögen, eigentlich nie zu Ende gehen. Liebe verursacht nicht nur Sehnen und Bangen, sondern auch so etwas wie selbstbewusst machende Zuversicht.
Wir hören eine Einspielung aus dem Jahr 1964 mit der grossen Maria Callas und dem Orchestre de la Societé des Concerts du Conservatoire unter der Leitung des von dieser Sängerin hochgeschätzten Dirigenten Georges Prêtre.