Die Verhandlungen zur Bildung einer Grossen Koalition - es wäre die dritte in der deutschen Nachkriegsgeschichte - können beginnen. Ein so "Kleiner Parteitag" der Sozialdemokraten in Berlin hat der Parteiführung Grünes Licht dafür gegeben. Doch ob es am Ende tatsächlich ein schwarz-rotes Regierungsbündnis an der Spree geben wird, steht noch keineswegs fest. An der Genossen-Basis wird zum Widerstand geblasen.
Fast 86 Prozent der Delegierten haben sich am Sonntag dafür ausgesprochen, dass die SPD-Spitze formelle Verhandlungen mit den Führungen von CDU und CSU und dem Ziel aufnimmt, eine gemeinsame – schwarz-rote – Regierungskoalition zu bilden. Vorangegangen waren zwei Sondierungsrunden, bei denen ausgelotet wurde, ob es überhaupt und, falls ja, welche politischen Übereinstimmungen gebe. Gleiches hatte auch zwischen der Union und den Grünen stattgefunden. Doch obwohl dabei, zur erkennbaren Überraschung auf beiden Seiten, gleich reihenweise über Jahre liebevoll gepflegte persönliche und politisch-inhaltliche Feindbilder in sich zusammen fielen, wagte man bei der einstigen Sonnenblumen-Partei den letzten Schritt doch nicht. Zum einen fürchtete man einen Aufstand bei der mehrheitlich links tickenden Gefolgschaft. Und zum anderen muss - gewiss eine richtige Überlegung - nach der Schlappe bei den Bundestagswahlen zunächst der personelle Neuanfang bewältigt und darüber hinaus der grundsätzliche Weg in die Zukunft gefunden werden.
Was heisst „Politikwechsel“?
SPD-Chef Sigmar Gabriel, unterstützt von der einflussreichen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin (und bislang erbitterten Grosse-Koalition-Gegnerin) Hannelore Kraft, haben am Sonntag vom Partei-Konvent vermutlich auch deshalb so viel Zustimmung für die Aufnahme von Verhandlungen bekommen, weil sie versprachen, der Union genügend Zugeständnisse abzuringen, damit es zu dem während des Wahlkampfs propagierten „Politikwechsel im Lande“ kommen werde. Dieser Begriff klingt nach Totalkorrektur vorheriger Irrwege, radikaler Richtungsänderung, Festlegung völlig neuer Schwerpunkte. Was also heisst „Politikwechsel“ im konkreten Fall?
Bevor wir ins Einzelne gehen, gilt es, zunächst einmal die Stimmung in der Bevölkerung – also beim Wählervolk – zu betrachten. Die SPD-Strategen hatten, gemeinsam mit den Grünen, einen Wechsel der Politik in der Bundesrepublik gefordert und, im Falle eines Wahlsiegs, auch versprochen. Das Ergebnis: Die Sozialdemokraten landeten bei etwa 26, die Grünen bei rund 8 Prozent. Hingegen fuhr die Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer CDU/CSU einen Erfolg hart an der absoluten Mehrheit ein. Mit anderen Worten: Ein solcher Wahlausgang spricht ganz sicher nicht für eine hohe Unzufriedenheit der Menschen und den Wunsch nach grossen Änderungen. Aber wie passt in dieses Bild des weiten Auseinanderklaffens der über Monate festzustellende Sympathietrend bei den Bürgern für eine Grosse Koalition? Also für ein politisches Monster, dem die deutsche Öffentlichkeit in früheren Jahren ungefähr so viel Zuneigung entgegen brachte wie der Teufel dem Weihwasser?
Nicht unbedingt ein Gegensatz
Bei näherem Betrachten ist das nicht unbedingt ein Gegensatz. Denn natürlich gibt es genügend korrekturbedürftige Bereiche – nicht zuletzt auf dem sozialen Sektor. So empfinden es die meisten Bürger zu Recht als moralischen Skandal, dass in vielen Bereichen der Erlös von ehrlicher Arbeit nicht ausreicht zur Sicherung des Lebens. Oder sie sehen nicht ein, dass Frauen im Alter schlechter gestellt sind, nur weil sie ihre Kinder vor 1992 geboren haben. Insofern entspricht natürlich das SPD-Verlangen nach einem gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro dem Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen – und zwar unabhängig davon, ob ein undifferenziertes Umsetzen dieser Forderung nicht durchaus auch gravierende Nachteile mit sich bringen könnte.
Die Sozialdemokraten jedenfalls gehen am Mittwoch in die Gespräche mit einem Katalog von zehn „unverhandelbaren“ Forderungen. Das hört sich dramatischer an, als es sich am Ende wahrscheinlich erweisen wird. Denn in Wirklichkeit sind beide Lager auf den meisten Gebieten gar nicht so weit auseinander (was der CDU/CSU aus dem konservativen Lager ja schon seit längerem den Vorwurf eingetragen hat, immer „sozialdemokratischer“ zu werden). Das gilt, nicht zuletzt, für den Reizbegriff „Mindestlohn“. Die Hauptdifferenz liegt hier darin, dass die Union es für vernünftiger hält, sich nicht auf eine fixe Zahl für ganz Deutschland festzulegen, sondern das Aushandeln möglichst den Tarifpartnern zu überlassen und dabei regionale und wirtschaftliche Besonderheiten zu berücksichtigen. Auch beim Thema Leiharbeit bestehen längst Brücken zwischen den Kontrahenten. Desgleichen im Zusammenhang mit Investitionen für Bildung und Infrastruktur im weitesten Sinne.
Das grosse Trauma
Wenn SPD-Chef Gabriel jetzt sagt, seine Partei werde die Verhandlungen mit der Union nicht als Show führen, sondern mit dem Ziel einer schwarz-roten Regierung am Ende, dann ist das absolut glaubhaft. Das Kernproblem bei den Genossen liegt freilich eher im psychologischen als im materiellen Bereich. Die Parteispitze ist ganz einfach hin- und hergerissen zwischen dem (bei der SPD traditionell ausgeprägten) Gefühl der Verantwortung für Staat, Land und Gesellschaft sowie der tief sitzenden Angst, nach einer erneuten, erfolgreichen gemeinsamen Regierungsarbeit von den Wählern vielleicht wieder nicht belohnt zu werden. Das traumatische Erlebnis von vor vier Jahren, als die Partei mit ihrem damaligen Spitzenmann Frank-Walter Steinmeier fast ins Bodenlose stürzte, sorgt heute noch für flatternde Hosen.
Deswegen wollen und müssen) die Genossen die Messlatte jetzt hoch anlegen. So hoch, dass – wie es heisst – jedermann die sozialdemokratische Handschrift auf den ersten Blick erkennt. Das glaubt man auch dem Fussvolk schuldig zu sein, das in weiten Teilen überhaupt nicht angetan ist von dem Gedanken an eine schwarz-rote Koalition in Berlin. Nicht Wenige werden mittlerweile auch von einer geradezu panischen Angst vor der Kanzlerin geplagt – immer wieder in Äusserungen erscheint Angela Merkel wie eine Art Dracula, der seine Umgebung als Helfer benutzt und anschliessend aussaugt. Einmal abgesehen davon, dass in solchen Darstellung ungewollt auch ein Stück Anerkennung mitschwingt – tatsächlich aber ist es lächerlich für eine so bedeutende Partei wie die SPD, derartig das eigene Selbstwertgefühl in den Schrank zu stellen.
Der Ton ist freundlich
Gehen wir also einmal davon aus, dass etwa um Weihnachten herum der Koalitionsvertrag zwischen Christ- und Sozialdemokraten unter Dach und Fach sein wird. Die Verhandlungen scheinen jedenfalls zu Beginn unter keinem schlechten Stern zu stehen. Der Ton ist schon seit einigen Tagen ziemlich freundlich. Die grosse Wahlsiegerin, Angela Merkel, und ihre Leute vermeiden alles, um den gebeutelten, künftigen Partner nicht zu reizen. Klar, so stark die Wähler die Union auch gemacht haben, ohne Hilfe stehen CDU und CSU im Bund verloren da. Aber auch die sozialdemokratischen Vordermänner halten sich deutlich zurück; unüberhörbar sind zum Beispiel die Mahnungen Sigmar Gabriels, unabwendbare Kompromisse nicht zu diskreditieren. Der Ruf nach Steuererhöhungen und Abschaffung des so genannten Betreuungsgeldes – thematische Zentren während des Wahlkampfs – tauchen in dem Zehn-Punkte-Katalog gleich gar nicht erst auf.
Es bleibt, freilich, eine grosse Unsicherheit. Am Ende dürfen (müssen?) die rund 470 000 SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen. Im Berliner Willy-Brandt-Haus wird dies als Schritt zu einer neuen, grösseren politischen Kultur im Lande, zu fortgeschrittener Demokratie bezeichnet. So kann man es, in der Tat, werten. Man kann es aber auch als Ausdruck mangelnder Courage sehen; schliesslich ist die Parteiführung ja eigentlich zur Führung gewählt worden. Was würde zum Beispiel sein, wenn bei der Endabstimmung viele (sagen wir: nicht selbst in Verantwortung stehende) Parteimitglieder allein ihrem negativen „Bauchgefühl“ folgten, weil sie lieber „morgens in den Spiegel schauen als sich als ´Merkel-Büttel´ fühlen“ (Originalton) wollen.