«Wie weit trägt Eigenverantwortung in der Krise» war vor einiger Zeit als Überschrift zu einem NZZ-Artikel zu lesen. Nicht allzu weit, konnte man als Leser denken, denn die Argumente und Zitate in dem Artikel sind derart windungsreich und widersprüchlich, dass man am Ende so klug ist wie zuvor. Und doch wird der Begriff Eigenverantwortung insbesondere von Stimmen aus dem liberalen Lager immer wieder ins Feld geführt, wenn es darum geht, die richtigen Rezepte für den Ausweg aus der Pandemie-Misere zu finden. Soll grundsätzlich eher der Staat oder der einzelne Bürger die Verhaltensregeln bestimmen und so die Verantwortung zur Überwindung der Krise übernehmen?
Die Staatsskeptiker, die auch den demokratischen Staat im Sinne des britischen Philosophen Thomas Hobbes eher als gefährlichen Leviathan einstufen, der danach trachtet, dem Bürger immer mehr Freiheiten zu nehmen, plädieren dafür, dass man anstelle staatlicher Regelungen viel mehr auf die Eigenverantwortung des mündigen Bürgers setzen sollte. Was das im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie konkret heissen soll, bleibt dabei aber meistens im Nebel. Soll jeder Beizer und Hotelier selber entscheiden, ob er sein Etablissement weiter offen halten soll? Soll jeder Tramfahrer selber bestimmen können, ob er eine Gesichtsmaske anzieht oder nicht? Und was hat Eigenverantwortung mit der Verantwortung gegenüber den Mitmenschen zu tun?
Bei dieser Frage wird das Loblied auf die Eigenverantwortung noch dubioser. Kein Wunder, dass auch undogmatische Liberale damit nicht viel anfangen können. Die St. Galler Ökonomin Monica Bütler hat denn auch erklärt, der Begriff Eigenverantwortung sei eigentlich ein Unwort und viel zu schwammig. Tatsächlich lässt sich Eigenverantwortung nicht klar und eindeutig vom Grundbegriff Verantwortung abgrenzen. Der Terminus Eigenverantwortung suggeriert aber auch, dass jeder nur für sich selbst Verantwortung trägt und die übrige Gesellschaft ihn nicht interessieren muss.
So verstanden, wäre das Ausdruck einer extrem egoistischen, selbstzentrierten Weltsicht. Die Dimension der sozialen Verantwortung wird damit rundweg ausgeblendet. Für eine höher entwickelte, auf sozialen Ausgleich und Stabilität bedachte Gesellschaft sicher keine akzeptable Leitidee. Deshalb ist nicht einzusehen, weshalb man anstelle des fragwürdigen, ideologisch aufgeblasenen Begriffs Eigenverantwortung nicht einfach das gute alte, inhaltlich weiter gespannte Wort Verantwortung gebrauchen soll.
Der berühmte deutsche Soziologe Max Weber hat zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik unterschieden. Der Gesinnungsethiker orientiert sich strikte an seinen als richtig erkannten Werten und Glaubenssätzen. Der Verantwortungsethiker hingegen fragt in erster Linie nach den Folgen seines Handelns für die Gesellschaft als Ganzes. Wer in einer Krise wie die Corona-Pandemie die auf das Einzelindividuum zentrierte Eigenverantwortung zu einer zentralen Idee der Problemlösung deklariert, kann schwerlich zur Kategorie der Verantwortungsethiker gezählt werden.