Zwei Jahre lang hat Peter Liechti (*1951) seine Eltern mit der Kamera begleitet, befragt und bestaunt. Sie sind seit 62 Jahren verheiratet. An Alltagsszenen – etwa dort, wo der Vater den Blumenstock auspackt, den die Mutter vom Supermarkt heimgebracht hat – beleuchtet er die Spannungen zwischen den beiden, worauf sie sich einigen und wie sie sich je einzeln ins Gleichgewicht bringen.
Hedi, die Mutter, hat Gott, Max, der Vater, den Garten. Vieles, was im Verlauf der Filmarbeit geredet wurde, kommt zwischendurch aus den Mündern von zwei Hasenpuppen, einem größeren grauen und einem kleineren braunen. Die nie fassbaren Kräfte, welche die wechselseitigen Beziehungen in Gang halten, blockieren, verstören, werden an der stummen Kasperfigur des Sohns, des Filmers selbst sichtbar, der im gegebenen Spannungsfeld, die eigenen Bewegungen suchend, zappelt und sich windet. Das Theater erlaubt es Liechti, aus angemessener Distanz ein unverzerrtes Licht auf seine Familie zu werfen – versucht man familiäre Abgründe filmend allzu sehr auszuleuchten, erweisen sich diese zuweilen als schwarze Löcher, in denen alles Licht verschwindet.
Verzicht auf die gewohnte Vormacht des Dokumentierenden
Filme von erwachsen gewordenen Kindern über ihre Väter, Mütter, Eltern, wie sie in den letzten Jahren häufig geworden sind, stehen oftmals allzu spürbar im Dienst von nur halbdeklarierten Bedürfnisse der Filmenden. Sie dienen dann allzu sehr etwa irgendwelcher Selbstdarstellung, Abrechnung, Liebeswerbung oder Rechtfertigung. Die aufdeckenden, zudeckenden, idealisierenden Züge solcher Werke lassen die Zuschauenden oft etwas ratlos und mit dem Gefühl zurück, zu viel oder zu wenig teilgenommen zu haben – worin sich vielleicht ein Gefühl der FilmemacherInnen selbst spiegelt.
Demgegenüber wirkt „Vaters Garten“ wie das Resultat solider psychischer und künstlerischer Arbeit an der eigenen Herkunft, er erschüttert auf produktive Weise. Der fremde Garten wird zum Zugang zum eigenen, Liechtis „Versuch einer persönlichen Geschichtsrevision“ zur Anregung, auch die eigene Geschichte etwas zu re-vidieren.
Biographie und Geschichte
Peter Liechti (*1951) bringt die speziellen familiendynamischen Verhältnisse, in welchen er aufgewachsen ist, offenherzig zur Darstellung. Gleichzeitig erzählt er von dem enormen mentalitätsgeschichtlichen Bruch, den das Jahr 1968 ganz allgemein mit sich gebracht hat – in den 1960er Jahren hat sich ja die Rede vom „Generation Gap“ verbreitet, von der enormen Kluft, die sich in der Wahrnehmung der Zeit damals zwischen den Generationen auftat. Sie seien von der 1968er Bewegung total überrollt worden, erinnern sich die Eltern.
„Vaters Garten“ sei ein „Film über den größten Bruch, den das Abendland seit seinem Bestehen erfahren hat“, schreibt Peter Liechti. Konkret erscheint dieser Bruch in der Form von Gesprächen über die Hemden des Vaters – welche die Mutter zu bügeln hat – und über die T-Shirts des Sohnes, oder in Form der Erinnerung an des Heranwachsenden langes Haar.
Schweizer Familie und Generationenfolge
Zentrum von „Vaters Garten“ sind die Beziehungen in der Herkunftsfamilie des Filmers. „Meine Eltern … repräsentieren das typisch schweizerische Kleinbürgertum… Mein halbes Leben lang war ich davon überzeugt, alles anders machen zu müssen als sie, auch anders zu denken und zu fühlen. Und heute ertappe ich mich immer öfter dabei, wie ich ihre, die ‘alten Werte’ verteidige…“, schreibt Peter Liechti.
Damit meint er weder Kleidertracht noch traditionellen Haarschnitt, sondern ein Interesse für Rücksicht und Gemeinwohl, wie es im Gebet der Mutter für die Schweizer Politiker zum Ausdruck kommt und im sorglichen Umgang des Vaters mit seinem Gemüse, und in einem Baum. So werden hinter der konkreten Familiengeschichte, vermittelt durch die eigenartige Würde und Komik der elterlichen Hasenfiguren und die mit Bedacht ausgewählte begleitende Musik, wiederum grössere psychosoziale, kulturelle, im weitesten Sinne religiöse Bereiche spürbar.
Bruch und Kontinuität
Das ist wohl das Besondere an diesem Film: Er erzählt „die ’Geschichte von den verlorenen Eltern’.“ Tatsächlich hat sich die Denkfigur, dass jede neue Generation – auch von Computern, Kunstformen und Moden, PolitikerInnen, Haushaltmaschinen – ganz anders und besser ist und sein muss als die alte, im 20. Jahrhundert tief in das westliche Bewusstsein eingegraben. Kontinuitäten werden, wo sie nicht als Vintage verkauft oder in neue Schläuche umgefüllt werden, allgemein schamhaft verleugnet oder aus dem Bewusstsein aussortiert. Der alten Väter Sitten haben einen radikalen Börsensturz erlebt, atemlos bemühen sich alte Väter und Mütter, dem Fort-Schritt ihrer Söhne und Töchter hinterher zu eilen.
Nicht so Max und Hedi Liechti. Sie „verweigern den Computer, sie wollen nicht ins ‘Netz’, sie denken nicht ’global’.“ Aber beide „beklagen den allgemeinen Verlust an Identität und Freiheit, das Verschwinden von … moralischen Werten in unserer Gesellschaft.“ Dort treffen sie sich mit dem Filmemacher. Sein Abstand von den Eltern erweist sich als groß genug, dass er sie wieder in ihrer Integrität sehen und zeigen kann.
Der Garten des Ernährers
Man kann sich fragen, wieso im Titel dieses Films, der doch über Eltern nachdenkt, nur der Vater vorkommt. Weil er seine Sprachlosigkeit so nervig in undiskutierbare Überzeugungen packt, während die Mutter mehr von sich zeigt?
Einmal im Lauf des Films geht zwischen den Eheleuten eine kleine Mine los. Die Mutter verfügt selbständig über ihr AHV-Geld. Das verletzt des Vaters Stolz und Rechtsempfinden – sie habe ja nicht das Geld gebracht, nicht gearbeitet, und jetzt kriege sie doch die AHV.
Wenn er schon keine Leibesfrüchte hervorbringen und an seiner Brust ernähren kann, so will er, scheint es, die Familie doch mit seinem Geld – bzw. den Früchten seines Gartens speisen.
Empfehlung
„Vaters Garten“ überzeugt mit der Auswahl seines Materials und mit der Idee der Paralleldarstellung der Eltern mithilfe von Hasenfiguren. Diese werden durch die Puppenspielerinnen (Kathrin Bosshard, Frauke Jacobi) bis in die Nasen und Ohren präzise bewegt. Sie wirken bald komisch, bald grotesk, zuweilen beinahe sakral, nie unliebenswert; an einzelnen Stellen erinnert der graue Vaterhase an einen Esel. Die Schnitte, welche Puppentheater und Dokumentarfilm verbinden, erstaunen und erfreuen, oftmals belegen reale Szenen, was auf der Puppenbühne geäußert wurde. Bemerkenswert ist außerdem der Soundtrack – Liechtis vorletzter Film, „Hardcore Chambermusic“ (2006) war ein Musikfilm. Und einen Filmmusik-Preis hat er bereits 1997 in Solothurn bekommen.
Das berührende Protokoll der Wiederbegegnung eines 62-Jährigen mit seinen über achtzigjährigen Eltern, wirkt ebenso aufgestört wie abgeklärt. „Alte Menschen kommen irgendwann in ihrem Leben an einen Punkt, wo die Eltern (auch die verstorbenen) wieder an Wichtigkeit gewinnen. … Plötzlich sind die Eltern wieder ein Thema, plötzlich besinnt man sich auf früher und sucht die Verbindung wieder herzustellen“, schreibt Peter Liechti. „Nun bin ich endlich selbst hier angekommen.“
Ob es wohl Zufall ist, dass sein letzter Film „The Sound of Insects: Record of a Mummy“ (2009) vom Tod handelte? Es ist ja denkbar, dass der Gedanke an den Tod einen auf neue Weise mit den eigenen Ahnen verbindet.
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An der Berlinale 2013 uraufgeführt, läuft „Vaters Garten“ in der Schweiz am 26. 9. an.