Im beginnenden Präsidentschaftswahlkampf schicken Frankreichs Konservative mit der 54-jährigen Ex-Ministerin und amtierenden Präsidentin der Grossregion Paris erstmals in ihrer Geschichte eine Frau ins Rennen um den Élyséepalast.
«Mit mir ist die bürgerliche Rechte in diesem Land wieder zurück», liess Valérie Pécresse nach ihrem Sieg bei der internen Urwahl um die Präsidentschaftskandidatur der Partei «Les Républicains» verlauten. «Es ist der Kampf meines Lebens, und ich werde ihn gewinnen», so die Präsidentschaftskandidatin einer Partei – und das ist nicht das einzige Paradox ihrer Nominierung –, welche sie 2019 offiziell verlassen hatte, weil sie ihr allzu rechtslastig geworden war.
Nichtsdestoweniger hofft Valérie Pécresse dort wieder ansetzen zu können, wo die Konservativen vor fünf Jahren mit dem Skandal um François Fillon zu Bruch gegangen waren, und dessen ganz überwiegend traditionsorientierte, streng konservativ-bürgerliche Wählerschaft von sich überzeugen zu können.
Man sollte im Moment den bisherigen Umfragewerten von Pécresse – nur ca. 11 Prozent – nicht allzu viel Bedeutung einräumen. Nun, da sie offiziell Kandidatin ist, dürften die Werte relativ schnell nach oben klettern. Und es erscheint durchaus nicht völlig unmöglich, dass die konservative Kandidatin, sagen wir mit 18 Prozent im ersten Wahlgang, knapp vor Le Pen und vor Zemmour landet und somit in die Stichwahl gegen Macron kommt.
Drahtseilakt
Um dieses Ziel zu erreichen, hat sie sich während des parteiinternen Wahlkampfs in den letzten Monaten, zumindest oberflächlich, deutlich gewandelt.
Denn bislang hatte Pécresse sich als Präsidentin der bevölkerungsreichsten Region Europas, der Île de France, der Pariser Grossregion, in der rund zwölf Millionen Menschen leben, das Image einer liberalen, durchsetzungsfähigen und kompetenten Managerin erworben, die gleichzeitig beste Kontakte zu den zwei französischen Zentrumsparteien unterhält.
Valérie Pécresse hatte vor sechs Jahren diese mit Abstand wichtigste Region Frankreichs den Sozialisten entrissen, die dort in den 17 Jahren davor das Sagen gehabt hatten, und war in diesem Frühjahr bei den Regionalwahlen in ihrem Amt ganz souverän bestätigt worden. In den letzten Wochen hat sie jedoch viel getan, um sich dieses eher liberalen Images so weit wie möglich zu entledigen.
Sie muss einen Drahtseilakt hinlegen, bei dem sie die Anhänger des jetzt unterlegenen Rechtsauslegers, Eric Ciotti, bei der Stange hält und daran hindert, sich am Ende Éric Zemmour oder Marine Le Pen zuzuwenden. Gleichzeitig muss sie die Stimmen derjenigen Konservativen zurückholen, die vor fünf Jahren von ihrer Partei zu Emmanuel Macron übergelaufen waren. Im Grunde ein unmögliches Unterfangen.
Hart rechts
Angesichts der zusehends rechtslastigen öffentlichen Meinung in Frankreich und in ihrer Partei, wo gemässigte Konservative inzwischen als Waschlappen gelten, ist auch Valérie Pécresse in den letzten Wochen auf die Themen Immigration und innere Sicherheit aufgesprungen. Hier übernimmt sie in groben Zügen, was François Fillon schon vor fünf Jahren proklamiert hatte: Quoten für Einwanderer, Einschränkungen bei Familienzusammenführungen und Abschiebung von kriminellen Ausländern nach Verbüssung ihrer Haftstrafe. Zusätzlich plädierte sie jüngst auch noch dafür, dass Ausländer erst nach fünf Jahren Aufenthalt im Land in den Genuss von Sozialhilfe kommen sollten.
Auch im ökonomischen Bereich lehnt sich Pécresse stark an das Programm von Fillon vor fünf Jahren an: Einschränkung öffentlicher Ausgaben, Abbau von 200’000 Beamtenstellen, Verlängerung der Arbeitszeiten und Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Grossbürgerin
In ihrer Partei, in der sie lange Zeit als eine Art Musterschülerin galt und als solche eher belächelt wurde, heisst es, sie besitze zwar eine aussergewöhnliche Intelligenz, habe aber keinerlei Empathie und verstehe die Sorgen der Menschen fern von Paris einfach nicht. Ihr äusseres Erscheinungsbild, ihre Herkunft und ihre bisherige Karriere könnten das durchaus unterstreichen.
Sie hat, bei welcher Gelegenheit auch immer, die Haare schön und blond, gepflegt gelegt und – ganz anders als Angela Merkel – den Blazer gut geschnitten und immer in derselben Farbe: rot. Dieser Blazer ist das bewusst gewählte und eher auffällige Markenzeichen von Madame Pécresse.
Die 54-jährige Mutter von drei Kindern ist ein Spross der wohlsituierten westlichen Vororte von Paris, irgendwo zwischen Saint-Germain-en-Laye und Versailles. Sie hat mit 16 ihr Abitur bestanden, die elitäre Wirtschaftsuniversität HEC absolviert und anschliessend auch die berühmte ENA, Frankreichs Elitehochschule der Verwaltung für die Crème de la crème der höchsten Beamten im Land.
Chamäleon
Valérie Pécresse hat ohne Zweifel etwas von einem Chamäleon. 2012 etwa demonstrierte sie noch gegen die Homo-Ehe, hat inzwischen in dieser Frage aber ihre Haltung diametral geändert.
Sie wurde mit gerade 30 Jahren Beraterin von Präsident Chirac, dann, unter Chiracs jungem Intimfeind Sarkozy, zwei Mal Ministerin. Sie stand Sarkozys Premierminister Fillon nahe, unterstützte 2016 bei der offenen Urwahl der Konservativen für die Präsidentschaftskandidatur 2017 aber dessen Gegner Alain Juppé, welcher letztlich Fillon deutlich unterlag.
Ein politischer Parcours, der so manchen zu der Feststellung bringt, die reichlich wendehalsige Madame Pécresse habe in ihrer Partei zwar nicht viele echte und schwergewichtige Anhänger, aber eben auch und vor allem so gut wie keine wirklichen Feinde.
Um eine möglichst grosse Bandbreite von ganz rechts bis ins Zentrum, von wirtschaftsliberal bis sozialverträglich abzudecken, hat sie für sich selbst jüngst die Formel erfunden, die da lautet: «Ich bin zu zwei Dritteln Merkel und zu einem Drittel Thatcher.»
Quadratur des Kreises
Will Pécresse letztendlich erfolgreich sein, muss sie in den kommenden zwanzig Wochen in der Tat eine Art Quadratur des Kreises zustande bringen. Sie darf die gemässigten Wähler der Mitte nicht vergraulen und muss gleichzeitig den ganz rechten Flügel ihres Wählerpotentials im Auge behalten und bedienen.
Denn immerhin hat dessen Repräsentant, der südfranzösische Abgeordnete Eric Ciotti, im zweiten Durchgang der Urwahl am Wochenende 40 Prozent der Stimmen erhalten. Der Law-and-Order-Mann hat an der These des «grossen Bevölkerungsaustausches» des rechtsextremen Kandidaten Éric Zemmour nichts auszusetzen und meinte erst jüngst, sollte dieser Zemmour im April nächsten Jahres in die Stichwahl gegen Präsident Macron kommen, würde er persönlich sich für Zemmour entscheiden. Wohlgemerkt für einen Zemmour, dessen erste grosse Wahlkampfveranstaltung an diesem Wochenende von Schlägereien und gewaltsamen Übergriffen gegen Journalisten und Anti- Rassismus-Aktivisten gekennzeichnet war.
Zemmour jedenfalls hat sofort nach der Urwahl der Konservativen die Anhänger des unterlegenen Eric Ciotti aufgerufen, sich doch seinem Lager anzuschliessen.
Perspektiven
Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 hatten tendenziell linke Wähler im entscheidenden zweiten Durchgang noch reihenweise für Macron gestimmt, um Marine Le Pen zu verhindern. Fünf Jahre später werden viele von ihnen das mit Sicherheit nicht mehr tun. Das von Macron proklamierte «sowohl rechts als auch links» hat in der Realität nicht funktioniert. Und diese linken Wähler werden es schon gar nicht tun, sollte Macron im entscheidenden zweiten Wahlgang Ende April nächsten Jahres gegen Valérie Pécresse und nicht gegen die extreme Rechte anzutreten haben. Für diese Wähler sind Macron und Pécresse schlicht zwei Seiten derselben Medaille.
Angesichts dessen ist die Entscheidung der 140’000 Mitglieder der Partei «Les Républicains», die amtierende Präsidentin der Grossregion Paris ins Rennen um das Präsidentenamt zu schicken, für den derzeitigen Hausherrn im Élysée mit Sicherheit alles andere als eine gute Nachricht.
Noch einmal: Sollte es Valérie Pécresse gelingen, im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen im kommenden April die beiden rechtsextremen Kanidaten, Marine Le Pen und Éric Zemmour, zu überflügeln, wäre das Ergebnis der entscheidenden Stichwahl höchst ungewiss und eine Niederlage Emmanuel Macrons, zumindest aus heutiger Sicht, nicht völlig auszuschliessen.
Und ausserdem, um mit Valérie Pécresse selbst zu sprechen: «Die Zeit der Frauen ist gekommen.» Auch diesen Aspekt sollte man in den kommenden Monaten mit auf der Rechnung haben.