Seit Jahren schwadroniert der potentielle Präsidentschaftskandidat regelmässig vom «Grand Remplacement», vom «Grossen Austausch» der Bevölkerung in Frankreich. Es ist mit Abstand sein Lieblingsthema, ja er scheint davon geradezu besessen zu sein. Zemmour bezieht sich mit diesem Kampfbegriff auf das schon 2001 erschienene, gleichnamige Werk von Renaud Camus. Dieser ist einer der Theoretiker und Vordenker der extremen Rechten in Frankreich und seit einigen Jahren auch bei deutschen oder österreichischen Identitären ein gefeierter Autor.
Camus gibt vor, es existiere ein Plan, von wem auch immer, wonach die weisse, christliche Mehrheitsbevölkerung in Frankreich und darüber hinaus gegen muslimische oder nicht-weisse Einwanderer ausgetauscht werden solle.
In diesem nun schon 20 Jahre alten Opus wird unter anderem beklagt, dass Frankreich dabei sei, unter muslimische Herrschaft zu geraten. Folglich müsse man das Staatsangehörigkeitsrecht ändern und das Jus sanguinis wieder einführen. Und ausserdem müssten künftig der Familiennachzug schlicht verboten und Sozialleistungen nur noch an Europäer ausbezahlt werden.
Eric Zemmour selbst sagte kürzlich in einem seiner vielen Statements zum «Grossen Austausch»:
«Ich sehe mir die katastrophale Lage Frankreichs an. Ich sehe die Gefahr, dass das Land stirbt, durch einen Austausch der Bevölkerung, durch einen Austausch der Zivilisation. Und ich merke, dass es in Frankreich Zehntausende oder sogar Millionen gibt, die die gleiche Sorge wie ich haben und meinen, dass eben das die wirklich existenzielle Frage ist und dass die gesamte herkömmliche politische Klasse dies einfach nicht wahrnimmt.»
Doch Zemmour, dieser mögliche Präsidentschaftskandidat, hat noch einiges mehr auf Lager.
Dass zum Beispiel in Frankreich geborene Kinder muslimische Vornamen erhalten, findet er skandalös und unpatriotisch und will dies verbieten. Er fabuliert von einer nötigen Re-Immigration, möchte kriminelle Ausländer schlicht des Landes verweisen und die geltenden Anti-Rassismus-Gesetze abschaffen.
Die Todesstrafe hält er für «philosophisch gerechtfertigt», die «Entmännlichung» (Dévirilisation) der Gesellschaft für eines der zentralen zivilisatorischen Übel, was ihn in schöner Regelmässigkeit auch zu offen frauenfeindlichen Äusserungen treibt.
Zemmour warnt gar vor einem Bürgerkrieg zwischen der dunkelhäutigen Vorstadtbevölkerung und den hellhäutigeren Franzosen und argumentiert, es gehe letztlich um das Überleben des französischen Volkes schlechthin und somit auch um nichts weniger als um Leben oder Tod.
Eine Dosis Antisemitismus
Und als wäre all das nicht Affront und Provokation genug und hätte er immer noch nicht genügend Tabus gebrochen, hat sich der Sohn jüdischer Eltern aus Algerien nun auch noch daran gemacht, seinem Repertoire eine Dosis Antisemitismus hinzuzufügen.
Seit Jahren wiederholt Zemmour,, der als Heranwachsender eine strikte jüdische Erziehung genossen hat und bis zum Tod seines Vaters regelmässig die Synagoge besuchte, gebetsmühlenhaft, Marschall Pétain und das Vichy-Regime hätten zwischen 1940 und 1944 Juden gerettet und in dieser Angelegenheit nicht mit den Besatzern kollaboriert, mit der Anmerkung, es seien französische Juden gewesen, die da gerettet wurden.
Was indirekt heisst, die ausländischen Juden, all die, die sich vor Hitler nach Frankreich gerettet hatten, zählen nicht. Selbst wenn man dieser Überlegung folgen würde, bleibt sie barer Unsinn. Wenn in Frankreich während der deutschen Besatzung rund Dreiviertel der im Land lebenden Juden nicht in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet wurden, dann, weil französische Bürger sie versteckt und gerettet haben und nicht weil der greise Marschall Pétain letztlich ein guter alter, den Juden zugeneigter Mann war.
Um noch eins draufzusetzen, hat Zemmour jüngst auch noch in Frage gestellt, dass Hauptmann Alfred Dreyfus, Spross einer jüdischen Familie aus dem Elsass, damals, 1895, wirklich unschuldig gewesen sei, Frankreich nicht verraten habe und 15 Jahre später, am Ende der skandalösen Dreyfus-Affäre, zu Recht rehabilitiert worden sei.
Und zu guter Letzt plädiert der 63-Jährige auch dafür, die in Frankreich 1990 verabschiedeten Gesetze, welche Revisionismus und Negationismus unter Strafe stellen, schlicht abzuschaffen.
Der Präsident des CRIF, des «Repräsentativen Rates jüdischer Institutionen Frankreichs», hat jüngst in einem öffentlichen Aufruf gefordert, keine einzige jüdische Stimme in Frankreich dürfe bei den künftigen Präsidentschaftswahlen für Zemmour abgegeben werden, sofern dieser denn wirklich zur Wahl antritt.
Barrès, Drumont, Maurras
Zemmour, dieser Beschwörer des alten und ewigen Frankreichs und der Zeiten, in denen alles noch besser und Frankreich eben wirklich noch Frankreich war, Männer richtige Männer und Frauen richtige Frauen und nicht der angebliche Krieg der Geschlechter tobte, er kennt seine Klassiker und ziert sich nicht, bei zahlreichen Gelegenheiten auf diese Theoretiker des Antisemitismus, der französischen Version des Faschismus und eines radikalen Nationalismus zu verweisen.
Wenn Zemmour verurteilt, dass die beim islamistischen Terroranschlag in Toulouse 2012 von Mohammed Merah ermordeten jüdischen Kinder der dortigen Tora-Schule von ihren Familien in Israel und nicht in Frankreich begraben wurden, und damit suggeriert, sie seien eben keine echten, kleinen Franzosen gewesen, dann ist der Schriftsteller Maurice Barrès, Vordenker der ultranationalistischen Rechten im Frankreich der Zwischenkriegszeit, nicht weit.
Selbiger hatte um 1900 den Begriff «Die Erde und die Toten» geprägt als Grundgedanke für Heimatverbundenheit und Patriotismus. Um der Anarchie zu entkommen, so Barrès damals, müssten die Franzosen sich an ihre Erde und an ihre Toten binden.
Nicht weniger deutlich sind die Bezüge Zemmours zu zwei anderen notorisch antisemitischen Agitatoren und Schrifstellern im Frankreich des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Erst jüngst verstieg sich Zemmour dazu, während einer Fernseh-Debatte Bernard Henri Lévy gleich mehrmals als «traître», als Verräter, ja als «figure absolu du traître» zu bezeichnen. Bei dieser Wortwahl kann man an Edouard Drumont denken, den Gründer der antisemitischen Liga Frankreichs und an sein Propagandaorgan «La libre Parole», das in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts mit diesem Vokabular über Hauptmann Dreyfus hergezogen war.
Und Zemmour wusste bei seiner Tirade gegen Bernard Henri Lévy natürlich auch, dass ein gewisser Charles Maurras, Royalist, Antiparlamentarier und Antisemit, 1935 im rechtsextremen Kampfblatt «L'Action Française» den Chef der Sozialisten und künftigen Premierminister der französischen Volksfrontregierung, Léon Blum, den «Juden Blum», wie es hiess, als Verräter gebrandmarkt und damals geschrieben hatte, es handle sich hier um einen Mann, den es zu füsilieren gelte, am besten durch einen Schuss in den Rücken.
Normalität
Es läuten die Alarmglocken, gestandene Historiker, Rechtswissenschaftler und Soziologen Frankreichs schreiben sich dieser Tage die Finger wund und warnen vor dem Rutsch in die rechten Extreme.
Doch gleichzeitig sind im aktuellen gesamtgesellschaftlichen Klima Frankreichs all die Ungeheuerlichkeiten, die Eric Zemmour nun seit Monaten fast tagtäglich von sich gibt, regelrecht banal geworden und von einem wirklichen Sturm der Entrüstung angesichts von fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Äusserungen des Polemikers und angehenden Präsidentschaftskandidaten kann keine Rede sein.
Der dominierende öffentliche Diskurs in Frankreich tendiert in den letzten Jahren ganz eindeutig immer weiter nach rechts und Zemmour bewegt sich in dieser Strömung wie ein Fisch im Wasser. Dämme und Tabus sind gleich reihenweise gebrochen, die radikalsten Positionen Normalität geworden.
Noch bis vor zehn Jahren hätte es – ausser dem alten Jean Marie Le Pen – zum Beispiel kein anderer Politiker gewagt, etwa das Vichy Regime zumindest teilweise rehabilitieren zu wollen. Und wenn Le Pen das tat, dann ging damals ein Aufschrei durchs Land.
Heute aber, beim Phänomen Zemmour, kann niemand mehr den Eindruck haben, als ginge ein Ruck der Entrüstung durch Frankreich, wenn der Polemiker fast alle Tage wieder in die Kiste seiner Ungeheuerlichkeiten und Provokationen greift.
Gewiss, Menschenrechtsorganisation zerren Zemmour regelmässig vor den Kadi und er wurde auch mehrmals verurteilt: wegen Anstiftung zum Hass gegen Muslime und Anstiftung zu rassistischer Diskriminierung und erst vergangene Woche zu 10’000 Euro Geldstrafe, weil er nordafrikanische Jugendliche unter den Flüchtlingen der letzten Jahre pauschal als Diebe und Vergewaltiger bezeichnet hatte.
Doch verhält es sich mittlerweile fast so, als würden jeder Prozess und jede Verurteilung ihm eine weitere Ehrenmedaille einbringen, die er sich stolz anheften kann. Ganz ähnlich, wie es manche von Zemmour so verachteten Vorstadt-Jugendlichen tun, unter denen einer, der im Gefängnis war, eher ein Held ist und dies manchmal auch deutlich mit einem Code zeigt, indem er ein Bein seiner Jogginghose hochgekrempelt trägt.
Zemmour gibt die Themen vor
Und schaut man sich an, was derzeit bei den traditionellen Konservativen, bei der Partei «Les Républicains» abläuft, so darf man getrost fragen: Warum sollte sich Eric Zemmour eigentlich verstecken ?
Die einst grosse, postgaullistische Partei der französischen Rechten hat zur Stunde immer noch keinen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen. Monatelang hat man sich intern gestritten, wie man einen oder eine nominieren soll. Nun hat man sich auf eine Urwahl ausschliesslich unter Parteimitgliedern geeinigt, bei der vier Kandidaten und eine Kandidatin antreten, unter ihnen Ex-EU-Kommissar Michel Barnier, ein Ex-Minister unter Sarkozy, Xavier Bertrand, sowie eine weitere Ex-Ministerin der Jahre 2007 bis 2012, Valérie Pecresse, zur Zeit Präsidentin der Pariser Grossregion «Île de France».
Seit Wochen ziehen die Kandidaten jetzt durch die Ortsvereine der Partei, um für sich zu werben, und sie haben in drei Wochen bereits dreimal, zwischen zwei und drei Stunden lang, vor den Kameras verschiedener Fernsehsender diskutiert. Diskussionen, deren Eindruck schlicht niederschmetternd war, denn letztlich haben sie allesamt, zu über 80 Prozent, nur über 3 Themen diskutiert: Einwanderung, Islam und innere Sicherheit.
Klimakatastrophe, das schwer gebeutelte Gesundheitswesen im Land, das ebenfalls reichlich angeschlagene Bildungswesen, die mangelnde Kaufkraft oder die Armut im Land, oder gar Kultur – Fehlanzeige, alles kein Thema.
Stattdessen war es so, als schwebe das Gespenst Eric Zemmour über diesen Fernsehdiskussionen und als gehe es darum, diesem Gespenst nicht etwa Paroli zu bieten, sondern möglichst weit und häufig in seine Fussstapfen zu treten. Fast alle verhielten sich so, als müssten sie nicht den Journalisten, sondern Eric Zemmour antworten.
Da war plötzlich die Rede von besonderen Sanktionen, die in bestimmten Vorstädten ausgesprochen werden müssten, da schwadronierte ein anderer von der Überlegenheit der französischen Zivilisation. Der Kanidat Eric Ciotti, der Law and Order-Abgeordnete aus Südfrankreich, will gar die Armee in die Vorstädte schicken. Und er hatte durchaus nichts gegen die Theorie vom «Grossen Bevölkerungsaustausch» einzuwenden und würde diesen Ausdruck durchaus selbst gebrauchen, wie er in einer dieser Debatten kundtat.
Und ja, natürlich, würde er ebenso wie Zemmour dafür plädieren, dass alle Ausländer in französischen Gefängnissen einfach abgeschoben würden.
Selbst der so weise wirkende Michel Barnier, der Mann mit grossväterlicher Ausstrahlung, hat sich zu einer für einen Europäer geradezu haarsträubenden Äusserung hinreissen lassen. «In Bezug auf die Einwanderung», so der Ex-EU-Kommissar und Brexit-Verhandler, «müssen wir unsere rechtliche Souveränität wiedererlangen, um uns nicht länger den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beugen zu müssen.»
Ein Alteuropäer, der plötzlich für einen klaren Bruch europäischen Rechts plädiert. Barnier erntete dafür aus der EU zwar Häme und Kritik, bleibt aber dabei und fordert ausserdem ein Einwanderungsmoratorium von fünf Jahren.
Wahrlich konsternierend zu sehen, wie ein Teil von Frankreichs traditioneller Rechten in diesen Wochen dem rechtsextremen Eric Zemmour richtiggehend hinterherhechelt.
Nach einer vierten Fernsehdebatte werden zwischen dem 1. und 4. Dezember die Mitglieder der Partei «Les Républicains» an die Urnen gehen, am Abend des 4. Dezember stehen dann der Sieger oder die Siegerin fest.
Und was steht am darauf folgenden 5. Dezember auf Eric Zemmours Terminkalender? Eine Grossveranstaltung in der Pariser Musik- und Veranstaltungshalle «Zenith». Die offizielle Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur? Wohl möglich. Perfekt getimt wäre es.