US-Präsident Biden ist zurück von seiner verunglückten Nahost-Reise – verunglückt, weil ihm widerfahren ist, was vor ihm noch kein Präsident des mächtigsten Landes der Welt hatte schlucken müssen: er wurde vom Oberhaupt eines kleinen Staates in der arabischen Welt, von Jordaniens König Hussein, kurzfristig ausgeladen.
Ausgerechnet von Jordanien, das jährlich von den USA Unterstützung im Umfang von durchschnittlich 1,3 Milliarden Dollar erhält. Also flog Joe Biden von Israel (dem die USA pro Jahr ca 3,3 Milliarden spenden) direkt nach Ägypten weiter (Empfänger von jährlich 1,5 Milliarden Hilfe aus den USA), unterhielt sich mit Diktator as-Sisi über dessen Meinung zum blutigen Konflikt zwischen Israel und der Hamas und der Not der 2,3 Millionen Gaza-Palästinenser – und flog zurück nach Washington.
Washingtons Veto gegen Sicherheitsrat-Resolution
Dort musste er sich, noch vor seiner grossen Rede an die Nation über die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, wohl auch mit seiner Uno-Botschafterin, Linda Thomas-Greenfield, besprechen, denn die Vereinigten Staaten hatten ja eben im Sicherheitsrat per Veto eine Resolution zum Konflikt in Nahost zu Fall gebracht, die, gemäss Mehrheitsmeinung, mit einem vernünftigem Text versucht hatte, der Gewalt zwischen Hamas und Israel ein zumindest vorläufiges Ende zu setzen (auch die Schweiz, derzeit im Sicherheitsrat, hatte für die Resolution votiert).
Die Resolution, eingebracht von Brasilien, beinhaltete die Verurteilung des Hamas-Angriffs auf Israel und forderte eine Kampfpause, um humanitäre Hilfe für die 2,3 Millionen Gaza-Palästinenser zu ermöglichen. Bidens Uno-Botschafterin, Linda Thomas-Greenfield, konnte das Nein der USA und damit das Veto nur schwach begründen – man müsse die Diplomatie arbeiten lassen, sagte sie. Und der Resolutionstext hätte Israels Recht auf Selbstverteidigung stärker betonen müssen.
Trumps zwiespältige Nahostpolitik
Die Brüskierung des US-Staatspräsidenten durch Jordaniens König und das weltweite Unverständnis hinsichtlich des US-Vetos im Uno-Sicherheitsrat sind die beiden aktuellsten Signale dafür, dass sich die Vereinigten Staaten mit ihrer Nah- und Mittelost-Politik in eine Sackgasse manövriert haben. Bidens Vorgänger, Donald Trump, behandelte die ganze Region mit grandios-pompöser Geste: er, respektive der von ihm in den politischen Adelsstand als Bevollmächtigter für den Mittleren Osten erhobene Schwiegersohn, Jared Kushner, würden «Historisches» erreichen, versprach er. Er liess zunächst einmal die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen, dann erklärte er sein Einverständnis zur Annexion der Golan-Region durch Israel und gab auch noch grünes Licht für den Fall, dass Israels Premier Netanjahu sich entschliessen würde, das ganze Westjordanland formell zu annektieren.
Trump lehnte sich nun wahrscheinlich erst einmal grandios zurück, dann liess er seinen Schwiegersohn das nächste Dossier anpacken, eine Harmonisierung der Beziehungen zwischen Israel und zumindest einigen arabischen Ländern. Es klappte ziemlich gut, das heisst, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain, danach auch noch Marokko, tauschten mit Israel Botschafter aus, und sogar Sudan wollte sich auf diesen Weg begeben (die Staatsführung sagte Ja, die Volksvertretung wollte abwarten).
So hinterliess Trump, am Ende seiner vierjährigen Präsidentschaft, seinem Nachfolger eigentlich ein solides Fundament für diese «Problemregion». Nur: in diesem Fundament war die ungelöste Palästinenser-Frage nicht vorhanden, sie wurde höchstens irgendwo einmal am Rande erwähnt, ohne irgendwelche konkrete Ideen.
Auch Biden klammerte die Palästinenserfrage aus
Joe Biden, der Nachfolge-Präsident, übernahm dieses Dossier scheinbar widerwillig – er wollte ja alle Fehltritte seines Vorgängers rückgängig machen und deutete auch an, dass sich dieser Reform-Wille auch auf das Nahost-Dossier bezog. Also wartete man vor allem in der arabischen Welt, dass er Trumps grüne Lichter hinsichtlich einer Annexion palästinensischer Regionen löschen würde, vielleicht auch Trumps Entscheidung, die US-Botschaft in Jerusalem anzusiedeln.
Doch nichts geschah – Joe Biden übernahm in Bezug auf die ganze Nah- und Mittelost-Thematik das, was der ungeliebte Vorgänger «angerichtet» hatte. Er erkannte offenkundig sogar gute Ansätze in der Strategie von Trump/Kushner und ging nun daran, auch Saudiarabiens De-facto-Herrscher, Mohammed bin Salman, zu umwerben – mit dem Ziel, auch zwischen Riad und Jerusalem Harmonie zu schaffen.
Auch die Biden-Administration dachte offenkundig nicht daran, dass das alles ein altes Kernproblem ausklammerte, das Problem des Status der Palästinenser im Westjordanland inklusive Ost-Jerusalem (3,5 Millionen Menschen) und im Gaza-Streifen (2,3 Millionen). Die Diplomatie auf hoher Ebene, zwischen den Regierungen, marginalisierte die Palästinenser und deren Anliegen. Selbst der saudische Kronprinz, Mohammed bin Salman, scherte sich offenkundig immer weniger um die einst dem Islam so wichtige «Verpflichtung», nämlich das Engagement zugunsten der dem Islam heiligen Stätten in Jerusalem, im Zentrum die al-Aqsa-Moschee.
Israelischer Siedlungsausbau im Westjordanland
Im Lebensraum der Israeli und der Palästinenser entwickelte sich, zeitlich parallel dazu, eine Eigendynamik: In Israel bildete Benjamin Netanjahu eine Koalitionsregierung mit weit rechts stehenden Kräften und gab damit grünes Licht für den Bau von immer mehr Siedlungen in dem seit 1967 besetzten Westjordanland. Das Gebiet wurde bis 2023 derart von israelischen Kleinstädten (das sind die Siedlungen tatsächlich) durchsetzt, dass jedermann und jede Frau erkennt: hier einen eigenständigen palästinensischen Staat errichten zu wollen, das ist reine Illusion. Die so genannte Zweistaaten-Lösung (ein palästinensischer Staat an der Seite Israels) ist im Verlauf der Jahre durch Fakten überrollt worden.
Klar, dass das bei den Palästinensern erkannt wurde – und dass im Westjordanland deshalb gewaltbereite Zellen Zulauf erhielten. Mit dem zu erwartenden Resultat: Noch mehr Konfrontation mit dem israelischen Militär, noch mehr Todesopfer. Zwischen Anfang 2023 und Oktober starben mehr als 200 Palästinenser und über 50 Israeli im Konflikt.
Gaza ist seit 2005 nicht mehr von Israel besetzt (Ariel Sharon hatte damals entschieden, seine Truppen zurückzuziehen, und den dortigen israelischen Siedlern den Befehl gegeben, sich nach Israel zu verlegen), wird aber durch Israel blockiert, d. h., niemand kommt raus aus dem Gazastreifen, niemand kann hineinfahren, ohne dass Israel dazu seine Einwilligung gibt. Man spricht, nicht zu Unrecht, von einem Gaza-Freiluft-Gefängnis, mit 2,3 Millionen Menschen.
Die Hamas-Terrorherrschaft in Gaza
Seit 2007 herrscht Hamas in Gaza – die radikal-islamistische Bewegung übernahm damals die Macht und «verstiess» die Repräsentanten der gemässigteren Fatah-Bewegung aus den Schaltzentralen. Von der Bevölkerung wurde das toleriert – sie konnte wohl nicht wissen, in welche Richtung Hamas sich entwickeln würde. Laut Amnesty International regiert Hamas (deren aktive Mitgliederzahl auf 80’000 geschätzt wird) seither durch Terror, Folter, Einschüchterung und willkürliche Hinrichtungen. Und hält sich an der Macht, vor allem dank finanzieller und materieller Unterstützung durch Iran und Katar.
Israels Haltung gegenüber Hamas war in den letzten Jahren widersprüchlich. Einerseits wollte es die Extremisten (die das Existenzrecht Israels ablehnen) boykottieren, anderseits sah sich die israelische Regierung zu einer Zusammenarbeit auf praktischer Ebene genötigt. In den letzten Monaten erhöhte Israel die Zahl der Arbeitsbewilligungen für Gaza-Palästinenser auf über 18’000. Raketen wurden zwar auch in den letzten Monaten immer wieder aus dem Gaza-Streifen nach Israel geschossen, aber dafür machte man die Extremistengruppe des Islamischen Jihad verantwortlich, nicht Hamas.
Deren Aktivisten verhielten sich ruhig, was in Israel zur irrigen Annahme führte, man könne den ganzen Komplex des Palästinenser-Problems sozusagen auf Sparflamme halten und sich darauf konzentrieren, die so vielversprechende Annäherungsdiplomatie mit arabischen Regierungen zu intensivieren und, vor allem, auf einen Durchbruch mit Saudiarabien hoffen. Also jener grossen politischen Linie folgen, die von den USA vorgezeichnet worden war.
Was kommt nach einer Zerschlagung von Hamas?
Der 7. Oktober (Tag der Hamas-Attacke mit dem Massenmord an der israelischen Zivilbevölkerung) entlarvte das schlagartig als Illusion und führte zur Erkenntnis: Keine Nahost-Diplomatie auf hoher Ebene ist erfolgreich, wenn sie die Palästinenser marginalisieren will. Hamas als Terror-Organisation kann wahrscheinlich zerschlagen werden –, aber was kommt danach? Mit der Palästinenser-Behörde von Mahmud Abbas ist, in übertragenem und realem Sinn, kein Staat zu machen. Umso weniger, als Israels jetzige Regierung ja entschlossen scheint, die Siedlungsbauten im Westjordanland noch zusätzlich zu intensivieren – und ebenso klar daran festzuhalten, dass der Gazastreifen, auch nach einem Ende des aktuellen Konflikts, ein «Freiluftgefängnis» bleiben wird.
Dieses wird nur, aufgrund der Demografie, von Jahr zu Jahr noch überlebensfeindlicher. Was konkret bedeutet, dass man, wenn dieser Krieg zu Ende ist, in zwei oder drei Jahren – wahrscheinlich – vor dem Ausbruch des nächsten Konflikts stehen wird.