Sind verbannte Journalisten fern der Heimat und der vertrauten Sprache machtlos? Nicht unbedingt. Im Zeitalter des Internets ist man überall zu Hause. Und gute Recherchen sind manchmal nur aus dem Ausland möglich, wie das folgende Beispiel aus dem Iran zeigt: Ehemalige Koranschüler suchen fünf Jahre lang vergeblich Gerechtigkeit. Sie sollen von einem einflussreichen Koranrezitator jahrelang sexuell missbraucht worden sein. Bisher haben sich viele Mächtigen des Landes dazu geäußert.
„Spotlight II“ könnte der Titel des neuen Films lauten. Wie sein Vorgänger, der im vergangenen Jahr mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, wäre auch seine Fortsetzung eine Erzählung über bittere Realität, ein Missbrauchsdrama. Alle notwendigen Zutaten dafür sind auch hier vorhanden: sexueller Missbrauch Schutzbefohlener, pervertierte Religionsloyalität, weitreichende Macht religiöser Institutionen – und nicht zuletzt journalistische Beharrlichkeit.
Skandal in der obersten Etage
Allerdings gibt es auch einige Unterschiede. Und genau die sind es, die eine zweite Version von „Spotlight“ rechtfertigen. Denn hier geht es nicht um die katholische Kirche, sondern um Koranschulen, und der Missbrauch Minderjähriger findet nicht in den USA statt, sondern in der Islamischen Republik Iran.
Es gibt noch weitere wesentliche Unterschiede, die der Filmemacher beachten müsste, der neue Film liesse sich damit aber auch noch viel spannender inszenieren als das Original: Denn in diesem Fall spielen die Missbrauchsopfer, die es gewagt haben, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, ebenso mit ihrem Leben wie jene Journalisten, die sich erlaubt haben, die Wahrheit herauszufinden.
Doch allen Drohungen und Einschüchterungen zum Trotz wird der Skandal mit all seinen Facetten längst auf Webseiten und in TV-Kanälen behandelt. Täglich kommen neue Details ans Licht. Deshalb müssen viele der im Iran Mächtigen – Minister, Parlamentsabgeordnete, der Chef der Justizbehörde und Freitagsprediger – sich ständig dazu äussern. Die Affäre erschüttert deshalb das Land so ausserordentlich, weil in ihrem Mittelpunkt der beste und einflussreichste Koranrezitator des Irans steht: ein Mann, der dem Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei sehr nahe steht. Und weil mächtige Institutionen des Landes mit allen Mitteln versuchen, die Akte zu schliessen und die Opfer zum Schweigen zu bringen.
Koranrezitation als Wissenschaft
Nicht jeder darf sich in der Islamischen Republik Koranrezitator nennen und nur wenige bekommen die Ehre, vor dem Revolutionsführer zu rezitieren. Das Rezitieren des Koran ist eine ernste Angelegenheit: eine Wissenschaft, die sogar älter ist als die der Interpretation. Denn in der Gesellschaft der Leseunkundigen war es der Rezitator des heiligen Textes, der als Vermittler der Wahrheit auftrat. Koraninterpreten tauchten erst viel später auf. Und weil sich die Rezitatoren auf Regeln des Rezitierens einigen mussten, entstand nach und nach die Wissenschaft der Intonation – علم تجوید (Elme Tadjwid), die inzwischen viele Abzweigungen hat und Bibliotheksregale füllt.
In allen islamischen Lehrstätten dieser Welt wird die Lehre der Intonation emsig und akribisch betrieben, junge Knaben werden in Koranschulen schon im zarten Alter an das richtige und zugleich schöne und musikalische Rezitieren herangeführt. Ein gut ausgebildeter Rezitator ist vieles in einem: Er ist Gelehrter, er beherrscht die Wissenschaft der zahlreichen Lesarten des heiligen Textes, er versteht viel von Sprech- und Singtechnik, hat eine angenehme Stimme und ist so auch ein Sänger, ein Künstler.
Der Rezitator des geistlichen Führers
Der 45-jährige Said Toussi erfüllt alle diese Voraussetzungen bestens. Gemäss seiner offiziellen Biographie war er erst fünf Jahre alt, als er in einer Moschee in der Stadt Maschad den Koran rezitierte und dabei Ali Khamenei auffiel. Es war drei Jahre vor der Islamischen Revolution und Khamenei war damals ein einfacher und unbekannter Mullah. Khamenei habe alle in der Moschee Anwesenden aufgefordert, sich diesen Fünfjährigen zum Vorbild zunehmen, steht auf Toussis Webseite. Die kurze Bekanntschaft sollte sich sehr lohnen. Kurz danach findet bekanntlich die Revolution statt und je älter diese Revolution wird, um so mehr verfeinert Toussi die Künste seiner Rezitation. Er wird schließlich zum Lieblingsrezitator Khameneis, der inzwischen zum mächtigsten Mann des Landes aufgestiegen ist.
Toussi führt mit 25 Jahren den Hohen Koran-Rat, in dessen Teheraner Hauptsitz Tausende Bedienstete arbeiten und der in jedem Ort des Landes eine Dependance unterhält. Er gewinnt in den folgenden Jahren für die Islamische Republik viele Preise bei internationalen Wettbewerben, die unter den Koranrezitatoren der Welt veranstaltet werden, von Malaysia bis Damaskus und Kairo. Bei zwanzig solcher Wettbewerben im Ausland ist er Repräsentant des Gottesstaates. Und es ist Toussi, der bei jeder wichtigen Einweihung und jedem offiziellen Anlass seine Rezitationskünste vorführen darf, etwa bei der ersten Sitzung des iranischen Parlaments. Und: Er wird Koranlehrer für Jugendliche, Tausende Schüler besuchen seine Kurse und werden selbst Rezitatoren
So weit die sichtbare Oberfläche.
Unappetitliches für das Volk
Doch seit etwa zwei Wochen, seitdem einige Opfer via Telefon in „Voice of America“ und BBC Persian aufgetreten sind, lernen wir einen anderen Toussi kennen. Seitdem wird die Welle der Reaktionen in der virtuellen Welt praktisch stündlich grösser. Plötzlich erscheint der berühmte Rezitator jenen Iranern in einem anderen Licht, die Zugang zum Internet habe. Und das sind nach offiziellen Angaben 70 Prozent des 80-Millionen-Volkes.
Im Internet interessieren sich plötzlich alle für die Person und das Thema: Ayatollahs und Atheisten, Minister und Oppositionelle, Verschwörungstheoretiker und Psychologen, glühende Anhänger des Revolutionsführers und natürlich an Objektivität und Wahrheit interessierte Journalisten. Aus dem unübersichtlichen Wust an Stellungnahmen und Anfeindungen lässt sich nach bestem Gewissen die folgende Geschichte subtrahieren – und selbst sie kann nicht den Anspruch erheben, die ganze Wahrheit zu sein.
Odyssee der Opfer
Im Frühjahr 2010 besuchen zwei Jugendliche im Alter von 18 und 17 Jahren den Teheraner Freitagsprediger Ayatollah Sadighi. Ihm erzählen sie in allen Einzelheiten, was sie vier Jahre zuvor als Koranschüler erlebt haben und wie sie von Said Toussi wiederholt sexuell missbraucht worden seien. Den einflussreichen und landesweit bekannten Prediger Sadighi bringt die detaillierte und glaubwürdige Schilderung der Jugendlichen so auf, dass er sofort einen ihm bekannten Richter in der 15. Strafkammer des iranischen Verwaltungsgerichtes anruft und die beiden Jungen noch am selben Tag zu ihm schickt.
Der Richter wird tätig, und innerhalb weniger Wochen melden sich noch weitere 14 Jugendliche bei ihm, die bereit sind, sich entweder der Anklage anzuschliessen oder als Zeugen aufzutreten. Es dauert fünf Monate, bis der Vernehmungsrichter schliesslich eine 83-seitige Akte zusammengestellt hat, in der die Aussagen der Opfer ebenso vorhanden sind wie die des Beschuldigten. In der Akte befinden sich auch mehrere CDs, auf denen kompromittierende Aussagen von Toussi festgehalten sind. Das Gericht lässt eine Klage zu. Hier taucht auch ein Geistlicher auf, in dessen Anwesenheit Toussi eine so genannte Reueerklärung unterschreibt.
Als Revolutionsführer Khamenei von der Affäre erfährt, wird die Akte zu einer anderen Kammer und von dort zum Chef der iranischen Justizbehörde persönlich weitergeleitet.
Damit beginnt eine Odyssee der Opfer durch das Labyrinth der iranischen Justiz, die fünf Jahre dauert und an deren Ende sie erfahren, dass die Ermittlungen eingestellt worden seien. Im vergangenen Juni aber erzählen sie ihre Geschichte einem Reporter, der in einer kurzen Notiz auf einer Webseite andeutet, es gebe eine gewisse Akte über einen bekannten Koranrezitator.
Und hier taucht eine weitere Parallele zum oscarprämierten Film „Spotlight“ auf. Auch dort war es eine kurze Meldung, die den neuen Chefredakteur des „Boston Globe“ zu weiteren Recherchen bewegte. Nun ist journalistische Recherche im eigentlichen Sinne des Wortes in der Islamischen Republik zwar ein Fremdwort, doch einige Webseiten trauten sich, weitere Hinweise zur Tat und zum Täter zu geben.
Beschuldigter droht mit Enthüllungen
Als Toussi die Gefahr erkannte, soll er einem Journalisten gedroht haben, er werde Hunderte Personen mit sich in den Abgrund ziehen, sollte in dieser Sache nicht Ruhe einkehren. Und das ist keine leere Drohung. Toussi weiss, was hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wird: Hinter den Mauern der religiösen Schulen, die junge Knaben beherbergen, geschehe viel Unzüchtiges. Doch jene Ruhe, die der Koranrezitator sich wünscht, will sich trotzdem nicht einstellen.
Recherche der verbannten Journalisten
Vor zwei Wochen beschäftigte sich Voice of America 45 Minuten lang mit diesem Skandal. Erstmals schilderten die Ex-Koranschüler dort dessen unappetitliche Einzelheiten in der Öffentlichkeit. Sie berichteten ausführlich über ihr Leid, ihre fünfjährige Odyssee durch die iranische Justiz, und schließlich über ihren Entschluss, sich den persischsprachigen TV-Sendern im Ausland zu öffnen.
Ein mutiger Schritt in jeder Hinsicht. Denn öffentlich zuzugeben, längere Zeit Opfer sexuellen Missbrauchs gewesen zu sein, bedeutet Selbstvernichtung – zumal die Zusammenarbeit mit „Feindsendern“ im Iran an sich strafbar ist. Doch BBC Persian und andere TV-Kanäle beschäftigten sich ebenfalls mit der Affäre. Seitdem ist ein wahrer Sturm der Entrüstung im Gange.
Die Welle der Reaktionen schwappt über
Es würde unzählige Seiten füllen, wollte man alles wiedergeben, was die Repräsentanten der Islamischen Republik in den vergangenen Tagen zu diesem Skandal beisteuerten.
Vergangene Woche sagte Generalstaatsanwalt Mohseni Edjei auf einer Pressekonferenz: „Die Anklage wegen sexuellen Missbrauchs wurde eingestellt.“ Gegen den Angeklagten werde aber wegen Verbreitung von Unmoral ermittelt. Die Missbrauchsklage sei nicht möglich, weil Zeugen der Tat fehlten, so der Staatsanwalt. Nach islamischem Recht müssen vier „gerechte Männer“ Zeugen einer Tat sein, um eine Schuld feststellen zu können. Sonst steht Aussage gegen Aussage.
Zwei Tage vor ihm hatte der Vizeminister für Kultur und islamische Führung die Justiz aufgefordert, die Wahrheit herauszufinden. Zugleich warnte er alle Geistlichen, ihre Verfehlungen würden den gesamten Islam in Verruf bringen. Einen Tag danach dementierte der mächtige Chef der Justizbehörde Ayatollah Laridjani in einer zornigen Rede, er hätte die Einstellung der Ermittlungen angeordnet, und drohte allen, die das behaupten, mit Gefängnisstrafen.
Der einflussreiche Ayatollah Makarem Schirazi sagte am vergangenen Mittwoch, selbst das Reden über diese Affäre sei eine Sünde.
Das war genau der Tag, an dem Präsident Hassan Rouhani Hillary Clinton und Donald Trump vorwarf, sie hätten keine Moral. Doch die Debatte über Unmoral im eigenen Land nimmt auch so kein Ende. Man braucht nur die Wörter سعید طوسی (Said Toussi) zu googeln, um zu erfahren, wie fast stündlich jemand etwas zu der Affäre beisteuert.
Die Leistung der Exilierten
Gäbe es diese heftige Debatte und den Sturm der Entrüstung auch ohne die persischen TV-Kanäle im Ausland? Undenkbar. Die Welt ist eben heute kleiner, als viele denken: Im 21. Jahrhundert müsse ein Journalist nicht mehr unbedingt am Ort des Geschehens sein, um seinen Job ordentlich zu erledigen, schreibt ein Kommentator auf der Webseite Zeitoon. Das sei Balsam auf die Wunde, die das Exil hinterlassen habe, „ein Ansporn, um nicht zu resignieren“, antwortet ihm ein anderer Journalist.
Mit freundlicher Genehmigung "Iran Journal"