Angriff im Morgengrauen: Um 06.40 Uhr läutete es an der Wohnung Rocchi in La-Chaux-de-Fonds (NE): Frau Rocchi öffnete die Tür und fand sich einem Untersuchungsrichter, vier Polizeiinspektoren und einem Informatiker gegenüber.
Das Team verlangte nach dem bekannten Recherchierjournalisten Ludovic Rocchi („Le Matin“). Dieser weilte allerdings am Filmfestival Locarno. Sein Laptop? Natürlich bei ihm, in Locarno. Frau Rocchi verlangte einen Durchsuchungsbefehl zu sehen. Untersuchungsrichter Nicolas Aubert habe verlegen in seiner Mappe gefummelt und ihn schliesslich hervorgezogen, verlautete von Rocchi-Seite.
In Ermangelung des gesuchten Journalistengeräts nahmen die Mannen trotz Protest Frau Rocchis Laptop und den des elfjährigen Sohns an sich, ferner einige CDs, Discs und Notizhefte.
Rechtzeitig verschlüsselt
Um 09.30 Uhr klopfte es an der Tür des Hotelzimmers von Ludovic Rocchi in Locarno. Zwei Tessiner Polizisten entführten, fernmandatiert vom Neuenburger Untersuchungsrichter, Rocchis Arbeitscomputer, dessen Inhalt der gewiefte Kollege auf Warnung seiner Frau hin noch rechtzeitig verschlüsselt hatte.
Rocchi, Träger des renommierten Journalistenpreises Dumur 2010, avisierte Maitre Yves Burnand, Anwalt des „Le Matin“, der nun seinerseits „Versiegelung“ der beschlagnahmten Gegenstände durchsetzte: Das ist gemäss der neuen Eidgenössischen Strafprozessordnung (2011) möglich, wenn der Inhaber der Gegenstände protestiert, die Beschlagnahme verletze sein Zeugnisverweigerungsrecht als Journalist.
Dieses ist unter dem Titel „Quellenschutz“ seit 1997 auf Druck des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hin im Schweizer Strafgesetzbuch und neuerdings auch in der Strafprozessordnung garantiert. Und die „Affäre Rocchi“? Vorab wird also ein Gericht entscheiden müssen, was vorgeht – der Eifer der Strafverfolger oder der Quellenschutz des Journalisten.
Funktionsstörungen an Uni-Institut
Ist ein solcher Angriff „erst- und einmalig“, wie da und dort kommentiert wurde? Nicht ganz. Unter dem Regime der „alten“ kantonalen Prozessgesetze war es gelegentlich vorgekommen; auch der Schreibende wurde Ende der 1970-er Jahre mit Redaktions- und Hausdurchsuchungen bedroht (und nachher wegen „Begünstigung“ eines Amtsgeheimnisverletzers verurteilt), als er sich weigerte, eine ihm anonym zugesandte Betreibungsurkunde gegen den Schriftsteller Solschenizyn herauszugeben. Aber seit dem verbrieften Quellenschutz, also in den letzten 15 Jahren, ist so etwas meines Wissens nicht mehr geschehen.
Was löste diese Haupt- und Staatsaktion gegen Rocchi und Familie aus? Ermittelt wird wegen der Strafanzeige eines Professors der Wirtschaftsfakultät an der Universität Neuenburg, der Rocchi „Üble Nachrede“ (Art. 173 StGB) und „Verleumdung“ (Art. 174 StGB) vorwirft.
Dazu kommt der Verdacht auf Anstiftung oder Gehilfenschaft bei einer Amtsgeheimnisverletzung (Art. 320 StGB). Rocchi hatte im „Le Matin“ über massive Funktionsstörungen am Institut des Professors berichtet und auch Plagiatsvorwürfe gegen ihn erwähnt. Ein lange erdauerter interner Bericht der Universität liegt vor (Amtsgeheimnis?), und eine Administrativuntersuchung nähert sich ihrem Ende.
"Étonné, scandalisé"
War das Eindringen in Rocchis Berufs- und Privatsphäre samt Beschlagnahmen gerechtfertigt? Professor Laurent Moreillon, Strafrechts- und Strafprozesslehrer an der Universität Lausanne, erklärte sich in einem ganzseitigen Interview des MatinDimanche “étonné. Et scandalisé“.
Der Quellenschutz gelte laut Strafgesetz, Strafprozessordnung, Bundesverfassung (Art. 17, „Redaktionsgeheimnis“) und Europäischer Menschenrechtskonvention (Medienfreiheit). Die obersten Gerichte in Lausanne und Strassburg erkennen in ihm einen Grundpfeiler der Medienfreiheit. Zwar sagt das Schweizer Strafrecht, der Quellenschutz „gelte nicht“, wenn das Zeugnis laut Richter erforderlich sei, „um eine Person aus unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben zu retten“ oder um Tötungsdelikte und einige andere Verstösse aufzuklären.
Aber das Bundesgericht hat im „Fall Turina“ – Panne bei einer Herzverpflanzung am Universitätsspital Zürich – klar festgehalten, dass selbst dann eine „Interessenabwägung im Einzelfall“ stattfinden müsse (2006). Übrigens: Die Rocchi möglicherweise vorgehaltenen Delikte sind im „Ausnahmenkatalog“ der Durchbrechungen des Quellenschutzes gar nicht enthalten. Der Zürcher Staats- und Medienrechtsprofessor Urs Saxer findet den „Überfall“ des Neuenburger Untersuchungsrichters deshalb „völlig unverhältnismässig“; es hätte vollauf gereicht, Rocchi im Rahmen der Ermittlungen und der Unschuldsvermutung ganz normal zu befragen.
Seltsame Argumente des Untersuchungsrichters
Der Neuenburger Untersuchungsrichter Aubert hat sich noch ein ganz besonderes Argument ausgedacht, um seinen doppelten Überfall auf Rocchis Laptops zu rechtfertigen: Es gehe gar nicht um den Zeugen Rocchi und den Quellenschutz seiner Informanten. Sondern um den „Angeklagten Rocchi“ und um Indizien, die allenfalls den Richter zur Bestrafung wegen Ehrverletzung und Amtsgeheimnisverletzung bewegen würden.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Basler Kommentar zur Strafprozessordnung misstrauen diesem Argument ganz grundsätzlich: Überraschende Hausdurchsuchungen beschneiden die Medienfreiheit viel stärker als eine Befragung; sie haben auf Redaktionen einen einschüchternden „chilling effect“. Und das Argument des Strafverfolgers Aubert ist oft nicht mehr als ein Vorwand, um an die geschützten Quellen des Recherchejournalisten heranzukommen.
(Copyright: Peter Studer, Text aus www.edito.ch)
Peter Studer ist Publizist und Anwalt. Ehemaliger Chefredaktor des Tages-Anzeigers und danach von SF DRS. Ehemaliger Präsident des Presserates.