Die innerlibanesische Konstellation ist untypisch. Normalerweise würde man erwarten, dass die Sunniten sich zwar auf die Saudis stützen, aber nicht auf die USA und ihre israelischen Verbündeten (resp. Klienten oder Inspiratoren, wie immer man darüber denken mag). Syrien war seit der Erfindung Libanons durch die Franzosen (nach dem Ersten Weltkrieg) stets der wichtigste Partner der libanesischen Sunniten gewesen.
Der Mord an Rafik Hariri und die Folgen
Diese Umkehr der Allianzen ist dadurch zustande gekommen, dass im Februar 2005 der langjährige libanesische Ministerpräsident Rafik Hariri zusammen mit 22 Begleitern und Beistehenden durch eine gewaltige Autobombe ermordet wurde. Hariri war als Unternehmer in Saudi Arabien sehr reich geworden, und er hatte sich nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1991) für den Wiederaufbau seines Landes eingesetzt.
Er war der wohl bedeutendste Politiker gewesen, der aus der sunnitischen Gemeinschaft Libanons hervorgegangen war seit der Gründerzeit Libanons und dem damaligen sunnitischen Ministerpräsidenten Riad Solh (der seinerseits ebenfalls aus politischen Gründen, die mit Syrien zusammenhingen, 1951 ermordet wurde).
Anschuldigungen gegen Syrien
Der Zorn über den Mord entlud sich zuerst gegen die Syrer. Sie standen damals mit ihren Truppen in Libanon, wo sie 1991 (mit Duldung der Amerikaner) einmarschiert waren, um den Bürgerkrieg in Libanon zu beenden. Die Syrer sahen sich gezwungen, ihre Truppen aus Libanon abzuziehen. Der Volksmund klagte sie an, sie hätten den Anschlag auf Hariri organisiert.
Der Volksmund hatte gute Gründe zu dieser Vermutung. Hariri hatte sich kurz vorher mit Damaskus entzweit, nachdem er jahrelang mit der syrischen Freundes-und Besetzungsmacht zusammengearbeitet hatte. Er war von der Regierung zurückgetreten und hatte erklärt, in Zukunft werde er von der Opposition aus gegen die Präsenz der Syrer in Libanon wirken. Dem Gerücht nach war er auf einem Besuch in Damaskus kurz vor seiner Ermordung heftig mit dem syrischen Präsidenten, Bashar al-Asad, zusammengestossen.
Unaufgeklärte Morde
Nach dem Abzug der Syrer aus Libanon wurde eine Untersuchung des internationalen Gerichtshofes in Den Haag eingeleitet, an welcher Libanon mitarbeitete. Sie sollte Klarheit über die Mordaktion schaffen. Doch die Aufklärungsarbeit zog sich über Jahre hinaus. Mehrere Untersuchungsrichter wurden ernannt, die nacheinander verschiedene Untersuchungen durchführten, ohne zu Resultaten zu gelangen, die dem Gerichtshof als Grundlage für eine Anklage hätten vorgelegt werden können.
Syrien stritt jede Verantwortung ab, und Hizbullah sekundierte Damaskus. Der Gang der Untersuchung war von zahlreichen Morden und unaufgeklärten angeblichen Selbstmorden begleitet, ihre Opfer waren Spitzenbeamte der syrischen Geheimdienste aber auch libanesische Polizeifachleute, Journalisten und Politiker, fast immer solche, die sich auf der Seite der anti-syrischen Kräfte engagiert hatten. All diese Verbrechen blieben unaufgeklärt. Die untersuchenden internationalen Juristen verhörten Zeugen, von denen manche Aussagen machten, die sich als wenig verlässlich erwiesen. Was genau vorging, lässt sich nicht kontrollieren, da es vom Instruktionsgeheimnis gedeckt war. Was man dennoch darüber erfuhr, ging auf Indiskretionen oder auch auf von interessierten Seiten in Umlauf gesetzte Gerüchte zurück.
Vier zur Zeit des Anschlags als Spitzenbeamte der libanesischen Geheimdienste tätige Offiziere, alle von Generalsrang, wurden jahrelang in Libanon im Gefängnis gehalten, offenbar im Auftrag der internationalen Untersuchungsbehörden, schliesslich jedoch auf Weisung des Gerichts von Den Haag ohne Anklage frei gelassen.
Durchbruch auf Grund geheimer Telefonverbindungen?
Nach allen Einzelheiten, die durchsickerten, machte die letzte der Untersuchungskommissionen, die unter dem Vorsitz des kanadischen Richters David Bellamare arbeitet, entscheidende Fortschritte, nicht auf Grund der stets umstrittenen und ungewiss bleibenden Zeugenaussagen (es gab falsche Zeugen, die von interessierter Seite eingesetzt wurden) sondern durch detaillierte Analysen der drahtlosen Telephongespräche, welche die vermuteten Mordgruppen unter sich und mit ihren Aufsehern und Hintermännern führten.
Den Durchbruch bei der Analyse der offenbar sehr komplexen Telephonverbindungen erzielte zuerst ein libanesischer Polizeihauptmann, Wissam Eid, der einen Rapport darüber verfasste, dann aber ermordet wurde. Sein Bericht wurde dem Vernehmen nach von der letzten der internationalen Untersuchungskommissionen neu entdeckt, und ihre Fortschritte bei der Spurensuche scheinen auf ihm zu basieren. Die kanadische Rundfunkorganisation CBC hat, zum Leidwesen der Untersuchungsbeamten, offenbar Einzelheiten über diese Vorgänge zugespielt erhalten und hat sie in der Form eines Filmes veröffentlicht.
Nach diesen durchgesickerten Berichten gab es ein Netzwerk aus Mobiltelephonen, das den Tätern nur dazu diente, untereinander zu verkehren. Sie hatten jedoch eine zweite Serie von Mobiltelephonen bei sich, die ausschliesslich zur Verbindung mit ihren vermuteten Vorgesetzten verwendet wurden, und diese wiederum scheinen ein drittes Netz ausschliesslich für den Verkehr unter sich gebraucht zu haben. Nur Fehler oder Disziplinlosigkeit, die gelegentlich vorkamen, erlaubten den Nachweis, dass die drei gegeneinander isolierten Netzwerke dadurch zusammenarbeiteten, das je zwei davon über Personen, die auf beiden telephonierten, miteinander verbunden waren.
Präventive Propaganda von Hizbullah
Nicht nur ausgewählte Journalisten sondern offenbar auch die Leitung von Hizbullah erhielten Informationen über den Fortgang der Untersuchungen, und Hizbullah beschloss, dem Gericht zuvorzukommen und erwartete Anklagen gegen Angehörige von Hizbullah zu dementieren, bevor sie noch offiziell erhoben wurden. Sayyid Hassan Nasrallah persönlich griff die Angelegenheit im vergangenen Oktober auf und erklärte in einer Volksrede vor dem Hizbullah- Fernsehen, der viele spätere Aussagen und Anschuldigungen folgten, in Wirklichkeit stehe Israel hinter der zu erwartenden Anklage.
Israel habe die libanesischen Telephonnetze und manipuliert, um Hizbullah als schuldig erscheinen zu lassen. Nasrallah konnte dabei von dem Umstand Gebrauch machen, dass kurz zuvor der libanesische Staat zahlreiche israelische Spionageaffären aufgedeckt haben wollte, wobei es sich nach den Aussagen der Verantwortlichen in erster Linie um elektronische Spionage gehandelt habe. Diese habe zur völligen Penetration der libanesischen Kommunikationsnetze geführt, so dass Israel in der Lage gewesen sei, "Parasiten-Linien" einzurichten.
Genauere Details und präzise Anklagen liegen nur in Einzelfällen vor. Es kam zu Verhaftungen und zur Flucht gewisser Verdächtiger nach Israel, doch Gerichtsurteile hat es in dieser Hinsicht in Libanon noch keine gegeben. Die überzeugten Hizbullah Anhänger, das heisst die immense Mehrheit der libanesischen Schiiten, dürfte den Gegendarstellungen der Hizbullah-Sprecher Glauben schenken. Wer jedoch nicht zu den Parteigängern der Partei Gottes gehört, bleibt wahrscheinlich skeptisch.
Vor der Entscheidung über eine Anklageerhebung
All dies muss man wissen und präsent halten, wenn man das gegenwärtige politische Ringen verstehen will. Die Untersuchungskommission scheint heute bereit, ihre Ergebnisse an das Gericht abzuliefern. Doch sie wird dabei auf die Mitarbeit der libanesischen Behörden angewiesen sein. Die Regierung unter Saad Hariri, dem Sohn des Ermordeten, schien bereit dies zu tun.
Doch Hizbullah und seine Verbündeten, die zusammen elf von 30 Ministerien innehaben, traten von der Regierung zurück. Dies brachte die Regierung von Saad Hariri in dem Augenblick zu Fall, in dem der Ministerpräsident zu Gesprächen mit Obama in Washington weilte.
Wer wird nächster Regierungschef?
Nun liegt es an Staatschef Suleiman einen mehrheitsfähigen sunnitischen Kandidaten für die Bildung einer neuen Regierung zu suchen. Hariri und seine verbleibenden 29 Minister amten vorläufig als provisorische Regierung. Ob eine provisorische Regierung der Untersuchungskommission die Zustimmung erteilen kann, den Internationalen Gerichtshof zu instruieren, oder nicht, ist mindestens unklar. Hizbullah wird sagen, sie kann das nicht. Ob Hariri das Gegenteil durchzusetzen versucht oder nicht, bleibt zur Zeit offen.
Als Nachfolger kommt entweder Hariri selbst in Betracht oder eine Person aus dem Umkreis von Hizbullah. Viel wird dabei von der Haltung des Drusenchefs Walid Jumblat abhängen. Bisher hat er mit seinen 9 drusischen Abgeordneten zu Hariri gehalten. Doch er selbst hat erklärt, er wisse noch nicht, ob er ihn weiterhin unterstützen werde. Der Block um Hariri hat 71 Abgeordnete (einschliesslich der elf Drusen) , jener um Hizbullah 57. Das ganze Parlament hat 128 Sitze.
Hizbullahs Sperrminderheit
Died Stellungnahme von Hizbullah gegen eine Gerichtsverhandlung ist dermassen heftig, dass man mit folgender Entwicklung rechnen muss: Wenn der provisorische Ministerpräsident oder ein möglicher Nachfolger die Anklageerhebung durchsetzen wollte, könnte Hizbullah zu den Waffen greifen. Die schiitische Kampfpartei gilt, wahrscheinlich zu recht, als stärker denn die libanesische Armee und die anderen Sicherheitskräfte des Staates.
Als es im Mai 2008 zu einer Kraftprobe zwischen Regierung und Hizbullah kam, sandte die Schiitenpartei ihre Kämpfer nach Ras-Beirut aus, verbrannte dort die Fernsehstation ihrer politischen Gegner und beherrschte nach kurzen Kämpfen mit pro-Regierungsmilizen, diesen zentralen Stadtteil, in dem viele der wichtigsten Geschäfte liegen, weil nur wenige Rivalen den Kampf mit ihr wagten. Die Folge dieser Gewaltoffensive war dann, dass die Libanesen übereinkamen, die Schiitenpartei könne in die Regierung eintreten und sie erhalte dort eine Sperrminderheit.
Die Sperrminderheit war schon immer die Vorbedingung von Hizbullah gewesen, ohne deren Erfüllung die Schiitenpartei nicht bereit war, in der libanesischen Regierung mitzuwirken. Es war immer deutlich gewesen: die Sperrminderheit sollte Hizbullah (und Syrien) im Notfall dazu dienen, eine Anklage Syriens oder der Hizbullah vor dem internationalen Gerichtshof zu verhindern. Diese Sperrminderheit hat Hizbullah nun eingesetzt, um die Regierung zu Fall zu bringen.
Unter den Augen der streitenden Grossen
In Israel hat die Regierung bereits eine Sondersitzung durchgeführt, um darüber zu beraten, was sie zu tun gedenke, falls Hizbullah in Libanon entweder uneingeschränkt zur Macht käme, oder einen Bürgerkrieg auslöste. Syrien und Saudi Arabien, wohl auch im Hintergrund mit den USA, fürchten die unvorhersehbaren Verwicklungen, zu denen ein Eingreifen Israels in Libanon führen könnte. Daher versuchten Prinz Sultan, als bevollmächtigter Abgesandter des Königreiches und Präsident Asad von Syrien in Damaskus zu einem Kompromiss zu gelangen, der eine gemeinsame Haltung in der Frage des Internationalen Gerichtes für beide Lager hätte beinhalten müssen.
Doch der Kompromiss kam nicht zustande, und Hizbullah verliess die libanesische Regierung, sobald dies deutlich geworden war. Neuerdings wird jedoch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die beiden Aussenmächte sich doch noch in einem zweiten Anlauf einigen könnten.
Alle libanesischen Beobachter sind sich einig darüber: wenn die Aussenmächte sich auf eine gemeinsame Haltung einigen könnten, wären sie auch in der Lage, diese bei den libanesischen Streitparteien durchzusetzen. Die Schwierigkeit der "Grossen" sich zu einigen, dürfte nicht zuletzt darauf zurückgehen, dass sie ihrerseits eingebunden sind in die Rivalitäten, die zwischen den ganz Grossen, Israel (plus Amerika) einerseits und Iran auf der Gegenseite, bestehen.