Mit diesem gewagten Schritt will die US-Regierung die pakistanische Armeeführung zwingen, sich zwischen den Amerikanern und ihren Feinden, der al-Qaeda und den Taleban, zu entscheiden. Gewagt ist dieser Schritt deshalb, weil sich die Armeeführung auch gegen die Amerikaner entscheiden könnte. Er ist als Folge der sich ständig verschlechternden Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu sehen, die eigentlich Verbündete sind.
Die Doppelpolitik Pakistans
Die Reibungen zwischen ihnen hatten begonnen, weil immer deutlicher geworden war, dass die pakistanische Armeeführung, besonders deren Geheimdienst, ISI, eine doppelbödige Politik führt. Einerseits steht sie mit den Amerikanern im "Krieg gegen den Terrorismus", andrerseits aber ist sie darauf bedacht, ihre guten Beziehungen zu islamistischen Terrorgruppen zu schonen und im Geheimen weiter zu pflegen. Mit diesen Gruppen hatte der Geheimdienst und die Armeeführung seit vielen Jahren zusammengearbeitet.
Lange Zeit hatten die Amerikaner darauf verzichtet, diese Zweideutigkeiten ihres Bundesgenossen offen anzuprangern, obwohl sie darüber Bescheid wussten. Sie hofften, auf diplomatischem Weg erreichen zu können, dass Pakistan dem Terror den Krieg erklärt und die Zusammenarbeit mit den Terrorgruppen stoppt.
ISI bestimmt die pakistanische Politik
Es war den amerikanischen Partnern wohl auch bewusst, dass die zivile pakistanische Regierung bereit war, dies zu tun. Vielleicht war den USA aber weniger bewusst, dass im Grunde ISI, der Geheimdienst der Armee, die Aktionen der Regierung bestimmt - und nicht umgekehrt.
Gesichtsverlust für den Geheimdienst
Die Beziehungen verschlechterten sich entscheidend und die Reibungen wurden öffentlich, nachdem die Amerikaner Osama Bin Laden in Abbottabad, gewissermassen unter der Nase der pakistanischen Armee und Sicherheitsdienste, überfallen und getötet hatten, ohne die Pakistani im Voraus darüber zu informieren. Für den ISI bedeutete dies einen schweren Gesichtsverlust. Die pakistanische Bevölkerung begann, offen über den normalerweise sehr gefürchteten, aber auch als wichtigen Teil der Armee respektierten Geheimdienst Witze zu reissen.
Eskalation der Vorwürfe
Viele der alten Streitpunkte gelangten in die Öffentlichkeit. Vorwürfe und Anklagen wurden nun von beiden Seiten laut formuliert. Die Pakistani beklagten sich - wie schon früher, aber nun deutlicher als zuvor - über die Drohnenangriffe der Amerikaner auf pakistanische Ziele. Kritisiert wurden auch die Übergriffe amerikanischer Truppen auf pakistanische Stammesgebiete. Dort griffen die USA Terroristennester an. Bei solchen Angriffen kamen meis auch Zivilisten und gelegentlich pakistanische Soldaten und Grenzwächter ums Leben.
Eklat um den Söldner Davis
Die Affäre um den von der CIA engagierten amerikanischen „Sicherheitskontraktor“ Raymond Davis sorgte im März für Aufsehen. Der amerikanische Söldner hatte zwei Pakistani auf offener Strasse erschossen, weil er fälschlich annahm, sie wollten ihn berauben. Er hatte sie zuerst angeschossen und sie dann mit Schüssen getötet.
Ein dritter Pakistani kam ums Leben, als ein amerikanischer Rettungswagen dem Söldner so eifrig zu Hilfe raste, dass ein Passant überfahren wurde. Davis konnte nach amerikanischer Ansicht nicht vor ein pakistanisches Gericht gestellt werden, weil er von der CIA angeheuert worden war. Er war somit nach Ansicht der USA Mitglied der amerikanischen Sicherheitskräfte, also diplomatische immun und der Gerichtsbarkeit Pakistans entzogen. Die pakistanischen Richter waren anderer Meinung. Am Ende wurde die Sache aus der Welt geschafft, indem die Amerikaner angeblich zwei Millionen Dollar zahlten.
Forderungen der Amerikaner
Die Amerikaner beklagten, zuerst leise, dann immer lauter und öffentlicher, dass die pakistanische Armee nicht alles täte, was sie tun sollte, um ihr eigenes Grenzgebiet unter Kontrolle zu halten und die dortigen Zufluchtszonen der pakistanischen und afghanischen Terroristen auszuräumen. Die Pakistani entgegneten, ihre Armee habe viel grössere Verluste an Menschenleben im "Krieg der Amerikaner gegen den Terrorismus" zu beklagen als die Amerikaner selbst, von den zivilen Bombenopfern ganz abgesehen.
Sie rechneten den Amerikanern auch vor, dass der Krieg in den Grenzregionen den pakistanischen Staat bisher 60 Milliarden Dollar gekostet habe, gegenüber nur etwa 1,5 Milliarden jährlich, die sie von den Amerikanern erhielten.
Sie betonten gerne, dass der Krieg an ihrer eigenen Grenze und in ihrem eigenen Land mit ihrer eigenen Armee ihre eigene Sache sei und nicht Sache der Amerikaner. Derartige Diskussionen, die sich auch in den Zeitungen niederschlagen, fördern bei der Bevölkerung das Gefühl, die Pakistani seien durch die Geldzahlungen zu einer Art Söldnern der Amerikaner in einem amerikanischen Krieg geworden, der bisher dem Land sehr viel Schaden und wenig Gewinn gebracht habe.
Umfragen ergaben, dass etwa 63 % der pakistanischen Bevölkerung die Amerikaner eher als Feinde denn als Freunde einstufen.
Wie viele amerikanische Agenten?
Die Davis-Affäre und später der Überfall auf Bin Laden führten zu Diskussionen darüber, wie viele amerikanische Geheimdienstleute in Pakistan und in den pakistanischen Stammeszonen geduldet werden sollten. Die Pakistani versuchten zuerst die Zahl der Visen einzuschränken, die amerikanischen Agenten gewährt wurden. Die Amerikaner beschwerten sich darüber. Spitzenkommandanten der amerikanischen Streitkräfte begannen sich öffentlich über die doppelbödige Politik Pakistans auszulassen. Die pakistanischen Armeekommandanten und Geheimdienstchefs dementierten empört diese Anschuldigungen.
Ausweisung von CIA Personal
Nach der Tötung Bin Ladens gingen die pakistanischen Behörden dazu über, die Zahl der amerikanischen Agenten, CIA-Angehörigen, CIA-Söldner, Ausbilder für pakistanische Sondertruppen in den Stammesgebieten, Wächter etc. einzuschränken und die Überzähligen auszuweisen. Zahlen sind nicht bekannt. Doch es muss sich um grosse Mengen von Agenten handeln. So werden beispielsweise die Drohnen, die von pakistanischen Militärflugplätzen aus starten, ausschliesslich von der CIA betrieben und unterhalten.
Offenbar befanden sich auch Ausbilder für hochentwickelte Waffensysteme, die die Amerikaner an Pakistan liefern, unter den Ausgewiesenen. Eine der Begründungen Washingtons für die vorläufige Einstellung von Hilfsgeldern lautete, es habe keinen Sinn den Pakistani hochentwickelte Waffen zu liefern, wenn nicht amerikanische Ausbildner die Pakistani in ihrem Gebrauch instruieren können.
Eine Zukunft ohne Amerika?
Hochpolitische Spannungen strategischer Natur kommen dazu. Die Amerikaner haben begonnen, direkt mit den afghanischen Taleban zu verhandeln. Es ist deutlich geworden, dass sie Afghanistan, so rasch wie möglich verlassen wollen. Die pakistanischen Behörden, allen voran der ISI, sind stets darauf bedacht gewesen, dass sie bei Verhandlungen über die Zukunft ihres nördlichen Nachbarlandes mitreden könnten. An Verhandlungen mit den Taleban wollten sie unbedingt führend beteiligt sein. Sie sehen sich nun von den Amerikanern übergangen und ausgeschaltet.
Sie können sich damit trösten, dass diese Verhandlungen schwerlich brauchbare Kompromisse herbeiführen werden, weil die Taleban wissen, dass die Amerikaner abziehen wollen und abziehen werden. Doch die Pakistani glauben, solange die Amerikaner noch präsent seien, bestünden bessere Möglichkeiten für sie, eine künftige Koexistenz mit den Taleban auszuhandeln. Nach einem amerikanischen Abzug aber, so befürchtet Pakistan, könnten die Taleban tun, was sie wollten. Die Pakistani betonen daher, dass sie als Nachbarland ein Recht und eine Pflicht gegenüber ihrer Bevölkerung hätten, bei allen Kontakten mit den Taleban mitzuwirken.
Wenig Alternativen zur heutigen Lage
All dies könnte dazu führen, dass die Pakistani sich gegen eine Unterordnung unter die Amerikaner entscheiden, auch wenn sie damit Hilfsgelder verlieren könnten.
Doch diese Gelder sind wichtig für die Ausrüstung der Armee. Deshalb ist vielleicht eher zu erwarten, dass die Pakistani, stets vom ISI gelenkt, versuchen werden, ihre bisherige doppelbödige Politik fortzuführen. So könnten sie sich weiterhin für eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern aussprechen, aber fortfahren, heimlich mit den Taleban enge Kontakte zu pflegen. So können sie sich für die Zeit, wenn die Amerikaner abgezogen sind, in Stellung bringen. Pakistan hat wohl keine andere Wahl.