„Wann endlich wird auch die russische Bevölkerung einsehen, wie schlimm Putin wirklich ist?“ Diese Frage bewegt viele westliche Beobachter und Kommentatoren - spätestens seit der Annexion der Krim im März 2014. Damals wollten die EU und die USA den Kreml mit Wirtschaftssanktionen bestrafen in der Hoffnung, damit die russische Bevölkerung im Kampf gegen ihre Führung zu unterstützen. Die Sanktionen, zusammen mit dem sinkenden Oelpreis und dem Rubelzerfall haben Russland inzwischen in eine Wirtschaftskrise gestürzt.
Sanktionen treffen die Falschen
Am meisten betroffen ist aber ausgerechnet jene städtische Mittelschicht, die im Winter 2011-2012 zu Zehntausenden auf der Strasse für ein „Russland ohne Putin“ protestiert hatte. Heute erfreut sich der russische Präsident weiterhin einer Popularität, von der westliche Politiker nur träumen können. Erneut stellt sich die Frage: Ist die russische Bevölkerung einfach unbelehrbar oder gibt es Realitäten, die wir im Westen nicht zur Kenntnis nehmen wollen ?
Natürlich manipuliert das staatsnahe Fernsehen Russlands öffentliche Meinung, wie das in westlichen Medien ausführlich thematisiert wurde. Acht von zehn Russen beziehen ihre Informationen aus dieser Quelle. Die entscheidende Frage ist aber, wer an diese Informationen noch glaubt? Der Prozentsatz der Bevölkerung, die diesen Informationen vertraut, ist laut dem unabhängigen Forschungszentrum Lewada seit 2008 von 79 Prozent auf 41 Prozent gefallen.
Oder anders formuliert: Die Russen sind sich gewohnt, zwischen den Zeilen zu lesen und informieren sich wieder in der „Küche“ zusammen mit Familienmitgliedern oder Freunden, so, wie sie das seit Sowjetzeiten gewohnt sind. Diese informellen Informationsquellen sind heute laut Umfragen des Lewada-Zentrums viel wichtiger als das Internet oder Soziale-Medien.
Wie denkt Russlands Führungsschicht?
Die Russland – Berichterstattung in den westlichen Medien konzentriert sich auf Putin und den „Putinismus“, wie das Regime bezeichnet wird, das sich Putin seit 15 Jahren aufgebaut hat. Wenig wissen wir über die russische Führungsschicht um Putin herum. In einer Auslegeordnung beschreibt der russische Soziologe Denis Wolkow (Lewada Center) Russlands politische Elite und ihr Verhältnis zur Bevölkerung: „Seit der Krim-Annexion,“ so Wolkow, „sind die Ansichten der russischen Führungsschicht mit jener der Mehrheit der Bevölkerung deckungsgleich. Beide unterstützen das Regime von Präsident Putin und seine Aussenpolitik.“ Die „Wiedereingliederung der Krim“, wie es in Russland heisst, hat Putins Popularität massiv gesteigert und der Bevölkerung das Gefühl gegeben, dass Russland eine Grossmacht ist, die ihre Interessen nach einer vorübergehenden Schwäche in den 90er Jahre auch im Ausland wieder wahrnimmt.
Protestbewegung hat Chance verpasst
Die Legitimitätskrise, welche das Regime nach den Massenprotesten von 2011 und 2012 erlitten hat, ist laut Wolkow überwunden. Die Anführer der Protestbewegung seien für den Kreml keine Gefahr mehr, weil es ihnen nicht gelungen sei, ein politisches Programm zu entwerfen, das eine Brücke zum übrigen Russland geschlagen hätte. Liberale Stimmen, so ist von Wolkow zu erfahren, kritisierten das Lewada – Zentrum, weil es regelmässig Putins hohe Popularitätsraten publiziere. Das nütze dem Regime und demoralisiere die Opposition.
Seit dem Ukraine- Konflikt bilden die „Silowiki“ (Vertreter der Streitkräfte und Geheimdienste) die bestorganisierte und einflussreichste Gruppe innerhalb der Führungsschicht. Die Silowiki haben den in den Jelzin - Jahren dominierenden liberalen „Wirtschaftsblock“ abgelöst. Von der Loyalität der Silowiki hängt auch Putins Zukunft ab. Wolkow: „Solange Putins Popularität gross ist, wird eine Mehrheit der Führungsschicht ihn als Schiedsrichter akzeptieren, weil nur er die konkurrierenden Interessengruppen ausbalancieren kann.“
Minderheit hofft weiterhin auf den Westen
In der Führungsschicht gebe es eine Minderheit, die eine Partnerschaft mit dem Westen unterstütze. Sie hoffe auf eine baldige Aufhebung der Sanktionen. Die Wirtschaftskrise fördere die Diskussion über notwendige Wirtschaftsreformen, die aber nicht mit einer politischen Liberalisierung gleichzusetzen seien.
Eine politische Krise sieht Wolkow nur als Folge einer langanhaltenden Wirtschaftskrise. Zum Beispiel, wenn die Führungsschicht zur Ueberzeugung gelangen sollte, das Regime sei nicht mehr in der Lage, Gefahren von aussen zu bewältigen. Es sei aber naiv, auf einen Regime-Wechsel zu hoffen, wie das im Westen oft der Fall sei.
Keine sozialen Unruhen
Die Wirtschaftskrise werde auch keine sozialen Unruhen auslösen, glaubt eine Studie des Moskauer Carnegie Zentrums. Für die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung folge die gegenwärtige Krise einer langen Wachstumsperiode. Die Tatsache, dass ihr Lebensstandard besser sei als vor 15 Jahren, sei wichtiger als der aktuelle Wirtschaftseinbruch.
Auf eine russische Realität, die im Westen zu wenig beachtet wird, hat der Oligarch Michail Chodorkowski bereits 2004 hingewiesen. In einem „Brief aus dem Gefängnis“ schrieb der damals Inhaftierte: „Putin ist weder ein Liberaler noch ein Demokrat. Aber er ist sicher liberaler und demokratischer als 70 Prozent unserer Bevölkerung.“ Der Oligarch erinnert sich sehr wohl: Als Putin 1999 die Macht übernahm, waren die konservativen Kräfte, welche die Interessen der Mehrheit vertraten, in der Opposition. An der Macht waren neoliberale Reformer, die mit der Privatisierung dafür gesorgt hatten, dass Staatsbetriebe an Oligarchen wie Chodorkowski verschachert wurden. Im Westen wurden die Reformer gelobt in Russland jedoch gehasst. Die Begriffe „Liberal“ und „Demokratisch“ sind in den Ohren der russischen Bevölkerung bis heute Schimpfwörter, weil sie an die Erfahrungen mit den Radikalreformern in den 90er Jahren erinnern.
Putin passt sich der Bevölkerung an
Es ist falsch, Russlands Realität auf den gegenwärtigen Herrscher Putin zu reduzieren. „In Russland herrscht nicht Putin sondern die Tradition,“ meint die britische Historikerin Lesley Chamberlain. „Russland ist nicht unter Putin autoritär geworden. Das Gegenteil ist der Fall, Putin hat sich der russischen Bevölkerung angepassst, die zu 80 Prozent konservativ ist.“ (The New Eurasians. Times Literary Supplement. May 13. 2015).
Ein Beispiel: Die westlichen Medien machen Putin für das umstrittene Gesetz verantwortlich, das „positive Aeusserungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen“ unter Strafe stellt. In Wirklichkeit hatte der Kreml das Gesetz zuerst abgelehnt und war erst später unter dem Druck der Oeffentlichkeit bereit nachzugeben. Der britische Russlandexperte Dan Healy (Oxford), der die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes recherchiert hat, zieht zwei Schlussfolgerungen: Russland ist in diesem Sinne wahrscheinlich „demokratischer“ als im Westen geglaubt wird und Demokratie ist nicht notwendigerweise mit Liberalismus gleichzusetzen.
Die Bevölkerung will Stabilität und soziale Sicherheit
In Russland gibt es seit Jahrhunderten autoritäre Strukturen. Die autoritäre Ordnung ist keine Erfindung Putins sondern eine Lebensform von Millionen. Die meisten russischen Bürger sind überzeugt, die autoritäre Ordnung der Gegenwart sei den chaotischen Zuständen der 90er Jahre überlegen, weil sie Gehorsam mit Wohlstand belohne und ein Leben in Sicherheit ermögliche. Nicht die im Westen hochgehaltenen Menschenrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit sondern Stabilität, Ordnung und soziale Sicherheit sind für die russische Bevölkerung entscheidend.
Die Demokratie des Westens ist kein Massstab, an dem in Russland bemessen wird, was als Fortschritt gesehen wird. Der Westen muss lernen, auch jene Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die nicht in sein Russland-Bild passen.