Negative, dramatische Nachrichten prägen die Medien. Denn gute sind «no news». Da fragen wir uns: Ist deswegen unser Weltbild zu negativ? Achten Sie mal darauf: Heute auf Radio/TV SRF – welches waren die News, die ausgewählt wurden, um uns zu informieren? Waren positive Meldungen dabei? Wohl kaum.
Wenn wir neu (aus der Zukunft) denken, sollten uns auch positive Tatsachen, neue Chancen und anstehende Erfindungen lenken, um uns Kraft zu geben, unser Verhalten zu hinterfragen. Denn gerade, was die Zukunft betrifft, wissen wir nicht, was wir nicht wissen. Konservatives Verhalten («früher war alles besser») und neoliberales Problemverdrängen («noch nie ging es uns so gut wie heute») sind keine zielführenden Zukunftsstrategien mehr.
Unsere Denkweise ändern?
Einer, der davon überzeugt ist, dass wir oft ein falsches, zu negatives Bild von der Welt haben, ist der Schwede Hans Rosling (1948–2017), Arzt und Autor des Buches «Factfulness» («Sachlichkeit, auf Tatsachen basierend, faktenreich»). Er schreibt: «Dieses Buch ist mein Versuch, die Denkweise der Menschen zu verändern, ihre irrationalen Ängste zu lindern und ihre Energien in konstruktives Handeln umzulenken.» Der vor vier Jahren verstorbene renommierte Statistiker und Wissenschaftler führt als Beweis seine Tests an, die zeigen, dass wir dazu tendieren, ein verzerrtes, meist allzu düsteres Bild von der Welt zu haben – weil wir tagtäglich mit Katastrophenmeldungen überflutet werden.
Statistiken sprechen eine andere Sprache als Medien
«Sie sind anderer Meinung? Prüfen Sie Ihr Wissen», fordert der Autor (Professor für Gesundheit) uns auf. «Beantworten Sie meine 13 Fragen, auf die es jeweils aus drei Antworten die richtige herauszufinden gilt.» Neunmal lag ich persönlich falsch.
«Es ist leicht, all die schlimmen Dinge auf der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Schwieriger ist es, das Gute zu sehen. Über unzählige Verbesserungen wird nicht berichtet.» Deshalb legt der Autor, quasi als Gegengewicht zu den medial verbreiteten News, die Ergebnisse seiner weltweiten statistischen Erhebungen vor.
Beispiele: Innert zwei Jahrhunderten ist der Anteil der in extremer Armut lebenden Bevölkerung von 83% auf 8% gesunken. Im gleichen Zeitraum ist die durchschnittliche Lebenserwartung von 31 auf 72 Jahre gestiegen. Weitere 16 schlechte Dinge, die abnahmen oder verschwanden, und 16 gute Dinge, die sich verbesserten, runden diese Erhebungen ab. Dies alles soll die selektive Berichterstattung und unsere ebenso selektive Wahrnehmung offenlegen.
Auch das Schreckensszenario einer schnell wachsenden Weltbevölkerung hat Rosling untersucht. Er bediente sich dazu der weltweiten Uno-Erhebungen über die durchschnittliche Anzahl Kinder pro Frau bis heute: Lag diese 1965 noch bei fünf Geburten, ist sie bis 2017 auf 2,5 gesunken.
Unser Gehirn
Rosling blickt auf eine jahrzehntelange Erfahrung aus Vorlesungen und Tests zur Wahrnehmung, wie Menschen Fakten fehlinterpretieren, zurück. Dabei ist er zum Schluss gekommen, «dass die überdramatisierte Weltsicht so schwer zu überwinden ist, weil sie unmittelbar mit der Funktionsweise unseres Gehirns zusammenhängt».
Wie es auch Daniel Kahneman («Thinking, Fast and Slow») beschrieben hat, tendieren wir Menschen dazu, oft zu raschen Entschlüssen – ohne grosses Nachdenken – zu kommen. Dass diese sich im Nachhinein häufig als falsch erweisen, wissen wir mittlerweile aus eigener Erfahrung.
Das menschliche Gehirn ist ja das Produkt von Millionen Jahren Evolution und somit mit Instinkten unserer Vorfahren fest verdrahtet. Um Gefahren rechtzeitig zu erkennen, mussten diese zu raschen Entschlüssen kommen – ohne lange zu überlegen. Flucht oder Ausharren – oft hing das Leben davon ab. Doch heute leben wir in einer völlig anderen Welt.
Deshalb hat der Autor dieses Buch über die Welt geschrieben, wie sie wirklich ist. «Es ist auch ein Buch über Sie und darüber, warum Sie (und fast alle Menschen, denen ich jemals begegnet bin) die Welt nicht so sehen, wie sie ist.»
Perspektivenwechsel statt Ideologie
Der Autor plädiert dafür, statt stur einer Ideologie (einer Perspektive) verhaftet zu bleiben, sich persönlich zu fragen, ob nicht – angesichts neuer Daten oder Entwicklungen – ein Perspektivenwechsel hilfreich wäre. Ideologen, die sich auf eine einzige Idee (die ihre) fixieren, können grossen Schaden anrichten, warnt Rosling. Unter Verweis auf Kuba meint er: «Die absurden Konsequenzen einer fanatischen Fokussierung auf eine einzige Idee […], anstatt diese Ideen und Konzepte auf ihre Tauglichkeit zu untersuchen, sind leicht zu erkennen.»
Factfulness
Jedes der 11 Kapitel des rund 400-seitigen Buches schliesst der Autor jeweils mit seiner Interpretation des Begriffs «Factfulness» ab. Darin fasst er zusammen, was er als Quintessenz der auf Tatsachen basierenden Recherchen betrachtet. Für mich besonders eindrücklich sind folgende Aufforderungen an Leserinnen und Leser:
- «Verfolgen Sie die allmählichen Veränderungen» – man könnte wohl auch sagen, die stillen, unspektakulären, kleinen Schritte zum Besseren.
- «Bringen Sie Ihr Wissen auf den neuesten Stand» – manches Wissen veraltet schnell, wie auch Technologien, Länder, Gesellschaften, Kulturen sich unablässig verändern.
- «Reden Sie mit dem Grossvater» – Gewohnheiten, Tatsachen, Wertvorstellungen und Traditionen unterscheiden sich von den heutigen Vorstellungen.
- «Sammeln Sie Beispiele für kulturellen Wandel» – Wir sollten nicht davon ausgehen, dass die heutige Kultur auch jene von gestern war oder von morgen sein wird.
Risiken, die uns beunruhigen sollten
Rosling verschliesst sich keineswegs der Risiken, die uns heute bedrohen. Er nennt in diesem Zusammenhang den Klimawandel, eine globale Pandemie, extreme Armut, einen möglichen Finanzkollaps oder Weltkrieg.
Etwas maliziös erinnert er daran, dass ein sechster Kandidat für diese Liste jener des unbekannten Risikos ist.
Da wären wir wieder beim Eingeständnis «Wir wissen nicht, was wir nicht wissen».
Abschliessend: Wir sollten dieses Buch nicht falsch verstehen. Es geht nicht darum, die globalen Risiken unserer Zeit zu relativieren oder gar zu negieren. Vielmehr versucht der Autor, den medial allgegenwärtigen Horrorgeschichten ein faktengestütztes Bild entgegenzustellen, das Mut und Hoffnung geben soll. Damit wir lernen, «die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist».
Hans Rosling: «Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist», postum veröffentlicht 2019, (393 Seiten), Ullstein