Selbst das Covid-Virus vermag das Virus der Politik nicht zu verdrängen. Gut so, solange «Politik» eine demokratische Problembewältigung meint. Aber blütenrein demokratisch ist Indiens Politik längst nicht mehr.
Indien befindet sich am Jahresbeginn in einer merkwürdig aggressiv-ängstlichen Stimmung. Das hat natürlich mit der neuen Covid-Welle zu tun, deren Ansteckungen auch hier exponentiell zunehmen und am Sonntag 175’000 Infektionen erreichten, mit einer vermutlich hohen Dunkelziffer. Aber wie anderswo begleitet diese Zahl eine geringe Hospitalisierungs- und eine noch tiefere Mortalitätsrate.
Nervöse Unrast
Zudem wird Indien wohl eines der ersten Länder sein, das das Covid-Virus in seine reich bestückte Palette von endemischen Epidemien aufnimmt. Es verfügt bereits über einen riesigen Apparat von Beamten, der jedes Jahr Impfkampagnen durchführt, mit einer Zielgruppe im Hundertmillionen-Bereich.
Auch die Wirtschaft soll sich von den ersten beiden Wellen erholen. Die Erholung ist allerdings zaghaft und kann jederzeit Rückschläge erleiden. Die Finanzmärkte boomen, während für den Rest der Wirtschaft das Merkmal «jobless growth» gilt.
Mit Ausnahme dieses letzterwähnten langfristigen Trends lässt sich die nervöse Unrast im Land an der Politik festmachen. Sie wird zudem weitgehend von den regierungsnahen Medien – traditionellen wie digitalen – aufgenommen und gestreut. Und da die Politik des Landes in den letzten sieben Jahren immer stärker auf das Amt des Premierministers ausgerichtet wird, ist es legitim zu prüfen, in welchem Mass diese Unruhe die Zentralregierung und ihren bestimmenden Exponenten berührt.
Zwischenfälle
Das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition ist einer der Bereiche, in dem sich diese Spannung entlädt. Dies hat damit zu tun, dass das Parlament quasi eine «Transformerstation» für solche Spannungen darstellt. Dank seiner überragenden Stimmenmehrheit hat die Regierung in den letzten Jahren diese Funktion aber systematisch ausgehebelt. Parlamentssitzungen (und ganze Sessionen) werden annulliert, Diskussionen über Gesetzesvorlagen abrupt mit Abstimmungen guillotiniert, Kommissionen, in denen traditionell die Opposition den Vorsitz führt, werden übergangen, oppositionelle Wortführer werden kurzerhand ausgeschlossen und bleiben bis zum Ende der Session vor der Tür, etc.
Dies führt zu hässlichen Fehden in den Wahlkreisen, die in mehreren Fällen mit dem Tod eines Politikers und dem Vergeltungsakt – in gleicher Münze – des Rivalen (und vermeintlichen Ersttäters) endeten. Gewöhnlich ist es die BJP, die auf der einen oder anderen Seite des Schlagabtauschs steht – auch dies ein Zeichen, wie omnipräsent diese früher rein nordindische Partei inzwischen geworden ist.
Gleichzeitig berichten Zeitungen beinahe täglich von gewaltsamen Vorfällen in Tempeln. Endemisch sind beispielsweise Misshandlungen gegenüber Dalits, die Tempel besuchen wollen und von Kasten-Hindus daran gehindert werden; oder Gruppen junger Rowdies dringen in christliche Gottesdienste und drangsalieren Gläubige; dabei werden manchmal auch Kultgegenstände zerstört oder beschädigt.
Ritueller Mord
Geradezu bizarr waren in den Tagen vor Neujahr Zwischenfälle in Sikh-Gurudwaras. In deren Tempeln stehen Symbole der Gründungsväter der Religion im Zentrum der Anbetung, allen voran ein Schwert und das heilige Buch, die «Guru Granth Sahib». In drei solcher Fälle soll ein junger Sikh in das «Allerheiligste» eingedrungen und diese Kultobjekte behändigt haben.
Jedes Mal wurde er von aufgebrachten Gläubigen in fast ritueller Art mit Messerstichen ermordet (der immer mitgeführte Dolch auf dem Leib ist eines der fünf «Erkennungszeichen» jedes Sikh). Ebenso schockierend war die Reaktion der Polizei und der Politiker. Letztere verurteilten unisono den Missetäter und erwähnten die Assassinen mit keinem Wort. Die Polizei ihrerseits erhob Haftbefehle – gegen die Angehörigen der Ermordeten notabene, und nicht gegen deren Mörder.
Die verstörende Reaktion zeigt, wie dünnhäutig auch die Sikhs bei religiösen Übergriffen (geworden) sind. Dies gilt gerade im Panjab, wo in den nächsten Wochen eine neue Regionalregierung gewählt wird. Es kam denn auch sofort zu Spekulationen, wonach BJP-nahe Hintermänner die Zwischenfälle orchestriert hätten, um die lokale Kongressregierung auf dem falschen Fuss zu erwischen und in diesem für die BJP schwierigen Staat Punkte zu holen.
Reginalwahlen
Regionalwahlen in einem der inzwischen dreissig Bundesstaaten (und zentralgesteuerten Territorien) sind ein Markenzeichen der indischen Demokratie. Sie sind inzwischen auch ein Markenzeichen von Narendra Modi, der jeden Wahlkampf zur Chefsache erklärt hat.
In den nächsten Wochen gehen Wähler aus fünf Gliedstaaten an die Urnen, neben drei Kleinregionen die bevölkerungsreichen Provinzen Panjab und Uttar Pradesch. Im Gegensatz zur Zentralwahl, wo die grosse Popularität des Premierministers zum Tragen kommt, gelten Regionalwahlen als Gelegenheit für die Wähler, der Regierungspartei eins auszuwischen, ohne dem Königsthron einen Schlag zu versetzen.
Besonders Uttar Pradesch ist ein wichtiger Gradmesser für die Popularität der BJP. Dort hat ein Modi-Satrap, Yogi Adityanath, ein radikaler Mönch mit dem Ruf eines «Muslimfressers», die religiöse Polarisierung zu nutzen versucht, um die grosse Hindu-Mehrheit hinter sich zu bringen. Nicht nur hat er den Spiel- und Lebensraum der Muslime systematisch und per Dekret eingeengt. Er lässt keine Gelegenheit aus, gegen sie zu sticheln und sie damit zum Freiwild zu erklären – begleitet vom lauten Schweigen aus der Regierungszentrale in Delhi.
Das Schweigen der Regierung
Quasi zum Auftakt liess er Ende Dezember im Pilgerort Hardwar eine Konferenz zu, in der Vertreter radikaler Hindu-Organisation sich dazu verstiegen, Yogis ständiges Stupsen in einen Fanfarenstoss zum Vernichtungskrieg zu verwandeln – nichts anderes als die physische Eliminierung der Muslime. Es gelte zu verhindern, sagte ein Sprecher, dass 2029 ein Muslim Premierminister werde. Warum 1929? Weil dann 40 Prozent der Hindus von Muslimen getötet worden seien, 50 Prozent konvertiert und der Rest in IKRK-Flüchtlingslagern hausen würden.
Selbst dies war kein Anlass für Partei oder Regierung, ein Machtwort zu sprechen. Das Schweigen wurde vielmehr als Grünes Licht gelesen, weiter zu zündeln. Tatsächlich flammten im neuen «Metaverse» die Hass-Tweets millionenfach auf, in denen namentlich genannte muslimische Frauen (etwa Journalistinnen) grotesk und obszön als käufliche Ware ins Bild gesetzt wurden.
Das linksliberale Informationsmedium «The Wire» veröffentlichte soeben das Resultat einer zweijährigen Recherche. Es zeigt, dass BJP-nahe Organisationen fähig waren, selbst die Schutzwände der amerikanischen Social Media-Giganten zu überwinden. Sie sind zwar unfreiwillige, aber umso wirksamere Multiplikatoren dieser Hass-Kampagne.
Die schockierte Reaktion selbst unter vielen Modi-Anhängern zwang die Polizei dann doch, einzuschreiten. Sie tat dies publizitätswirksam mit Verhaftungen blutjunger Studenten in entlegenen Regionen, die in Handschellen in die Zentralen zurückgebracht wurden. Auch dies hinterliess einen schalen Geschmack. Die provinzielle Herkunft der Schreibtischtäter – etwa eine 19-jährige Vollwaise aus einem Himalajatal – suggeriert, dass der Staat die «Entgleisungen» der Grossmannssucht pubertierender Jugendlicher zuschreiben will, um die digitalen eingebetteten Netzwerkbetreiber aus der Schusslinie zu nehmen.
Sympathie-Bonus
Ein Zwischenfall im Panjab vor einigen Tagen hat wohl ebenfalls wahltaktische Hintergründe. Der Konvoi von Premierminister Modi, auf dem Weg zu einer Veranstaltung nahe der Grenze zu Pakistan, geriet auf einer Autobahnbrücke in einen Verkehrsstau, der von protestierenden Bauern ausgelöst worden war. Der Konvoi musste umdrehen und fuhr zum nächstliegenden Flughafen zurück, wo der Premierminister zuvor gelandet war.
Dort tweetete Modi ironisch seinen «Dank» an die Panjab-Regierung, dass er «lebend» in Sicherheit gebracht worden sei. Sofort brach landesweit ein Sturm der Entrüstung los, der von den Medien noch potenziert wurde. Die Kongressregierung wurde beschuldigt, den Premierminister des Landes bewusst blossgestellt und damit dessen Leben gefährdet zu haben. Regierungschefs aller BJP-Staaten besuchten Tempel, um für das Wohl des Vaters der Nation zu beten.
Die Panjab-Regierung entschuldigte sich für den Lapsus und setzte ebenfalls eine Untersuchungskommission ein, verwahrte sich jedoch gegen die Unterstellung, das Ereignis geplant zu haben. Sie wies darauf hin, dass der PM mit dem Helikopter hätte fliegen sollen; als sich das Wetter nicht besserte, habe er sich kurzfristig für die Strasse entschieden.
Der Premierminister hat zumindest im weiten Land (und in den meisten Medien) einen Sympathie-Bonus geerntet. Nur wenige regierungskritische Organe brachten den Verdacht ins Spiel, dass die BJP versuchen könnte, daraus Kapital zu schlagen. Sie könnte, so der Journalist Prem Shankar Jha im «Wire», die Regionalregierung entlassen und mit der Verwaltungskontrolle aus Delhi dann die Wahl beeinflussen. Allerdings gilt zu beachten, dass im Wahlkampf die Wahlbehörde eine uneingeschränkte Aufsicht ausübt. Aber einmal mehr wird es Narendra Modi gelingen, die Wahl zu einem Referendum über seine Person zu machen.