Artikel 51 der Uno-Charta, die alle Uno-Mitglieder unterzeichnet haben, stellt glasklar fest, dass jeder Staat im Falle eines bewaffneten Angriffs das Recht auf Selbstverteidigung hat. Ausdrücklich kann dieses Recht auch kollektiv ausgeübt werden, also im Verbund mit anderen Staaten. Diese grundsätzliche Klärung wird bei den konfusen Diskussionen um westliche Waffenhilfe an die Ukraine meist unterschlagen – vor allem von den Kreml-Propagandisten und ihren Nachbetern im Westen.
Merkwürdigerweise wird das in der Uno-Charta festgeschriebene «naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung» eines Staates im Falle eines Angriffs im Zusammenhang mit den immer wieder aufflammenden Debatten über westliche Waffenhilfe an die Ukraine nur selten in die Argumentation einbezogen. Ein Grund für die Ausblendung dieses völkerrechtlichen Grundsatzes dürfte auch damit zu tun haben, dass die Kritiker dieser Waffenhilfe kein Interesse daran haben, die Uno-Charta zu zitieren, wenn sie ihre Einwände und rabulistischen Rechtfertigungen für den Angreifer ins Feld führen. Denn am Recht der Ukraine, sich gegen das angreifende Putin-Russland zur Wehr zu setzen, gibt es völkerrechtlich und moralisch ebenso wenig zu rütteln wie an der in der von der Uno-Charta gestützten Legitimation, das sich verteidigende Land durch kollektive Hilfsmassnahmen zu unterstützen.
Klare Uno-Mehrheit gegen Russlands Ukraine-Überfall
Im Prinzip könnte der Uno-Sicherheitsrat dieses kollektive Recht auf Selbstverteidigung einschränken, wenn er die «zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Massnahmen getroffen» hat. Im Klartext heisst das, der Sicherheitsrat müsste in der Lage sein, den Aggressor Russland zum Rückzug aus der Ukraine zu bewegen. Davon kann indessen angesichts des russischen Vetorechts weit und breit keine Rede sein. Immerhin muss daran erinnert werden, dass die Uno-Vollversammlung am 2. März 2022 die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine mit überwältigender Mehrheit von 141 der 181 abstimmenden Staaten verurteilt hat. 35 Länder enthielten sich damals der Stimme, unter ihnen bemerkenswerterweise auch China. Nur fünf Länder votierten gegen die Verurteilung der Aggression: Belarus, Eritrea, Nordkorea, Syrien und natürlich Russland.
Vor dieser zumindest im politischen Sinne eindeutigen Bestätigung des Uno-Rechts auf Selbstverteidigung und die damit verbundene Berechtigung zu kollektiven Hilfsmassnahmen muten die seit zwei Jahren immer wieder aufbrechenden Debatten über die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine reichlich konfus und kleinmütig an.
Konfuse Debatte um abgesagte «Taurus»-Lieferung
Im Zentrum der Medienberichte zu diesem Thema steht zurzeit die aufgeregte Diskussion über die mögliche Lieferung Deutschlands von modernen Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine. Russland ist es gelungen, ein fahrlässig nicht verschlüsseltes Telefongespräch zwischen hohen Luftwaffen-Offizieren abzuhören, in dem Aspekte eines eventuellen Einsatzes dieses von Deutschland und Schweden entwickelten Waffensystems erörtert werden. Die Rede ist insbesondere von einem möglichen Taurus-Angriff auf die Kertsch-Brücke, die im Schwarzen Meer das russische Festland mit der besetzten Krim-Halbinsel verbindet. Der russische Propaganda-Sender RT (früher Russia Today) hat einen Mitschnitt dieses Gespräch mit grossem Trara veröffentlicht.
Dabei wird konsequent unterschlagen, dass dieses Gespräch geführt wurde, bevor der deutsche Bundeskanzler Scholz seinen Entscheid bekanntgab, dass er eine Lieferung von Taurus-Flugkörpern an die Ukraine nicht bewillige. Er begründete diese Entscheidung unter anderem mit Bedenken, dass diese Waffe eine Reichweite bis zu 500 Kilometern haben und damit von der Ukraine aus auch Moskau treffen könnte. Scholz meint, damit sei das Risiko zu gross, dass Deutschland direkt in einen Krieg mit Russland verwickelt werden könnte.
«Kriegstreiber» und «Friedenskanzler»
Diese Klarstellung des Kanzlers hinderte indessen den früheren russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew, der sich seit dem Ukraine-Einmarsch als Putinscher Kettenhund zu profilieren versucht, nicht daran, zu verkünden, es bestehe kein Zweifel, dass Berlin sich für einen Krieg mit Russland vorbereite. Ins gleiche Horn hatten mit schriller Empörung auch westliche Kreml-Nachbeter geblasen. Auch der notorische Putin-Propagandist Köppel hatte sich zunächst mit zornbebender Stimme diesem Chor angeschlossen. Doch dann erkannte der schwadronierende Dauerredner immerhin die Diskrepanz zwischen dem Kriegsgerede Medwedews und dem Scholz-Entscheid zur Nichtlieferung von Taurus. Wendig wie immer jubelte der «Weltwoche»-Chef den deutschen Bundeskanzler schwupps zum «Friedenskanzler» empor – nachdem er ihn zuvor noch zusammen mit anderen Ukraine-Unterstützern als «Kriegstreiber» kritisiert hatte.
Auch diese rhetorische Volte dient den Zielen der Kreml-Propaganda. Lässt sich doch mit der manipulativen Gegenüberstellung zwischen dem «Friedenskanzler» in Berlin und den angeblichen Kriegstreibern in anderen westlichen Hauptstädten unschwer ein zusätzlicher Keil in das schwankende Meinungsbild offener Gesellschaften treiben.
Die Krim ist völkerrechtlich nicht russisches Staatsgebiet
Was übrigens einen eventuellen Angriff mit westlichen Waffen auf die Kertsch-Brücke betrifft, so wäre das, zumindest völkerrechtlich gesehen, keineswegs automatisch ein Angriff auf russisches Territorium. Völkerrechtlich gehört die von Russland seit 2014 besetzte Krim weiterhin zum ukrainischen Staatsgebiet. Würde die von Russland im Eiltempo erbaute Brücke über die Kertsch-Meerenge, die das russische Festland mit der Krim verbindet, am Ostufer der Krim-Halbinsel zerstört, so könnte man geltend machen, dieser Angriff habe nicht auf russischem, sondern auf ukrainischem Staatsgebiet stattgefunden.
Zurück zum Artikel 15 der Uno-Charta, der wie erwähnt das Recht eines souveränen Staates zur Selbstverteidigung festschreibt, und zwar ausdrücklich auch das Recht zur kollektiven Hilfeleistung an das attackierte Land. Die Schweiz sollte sich diese völkerrechtliche Bestimmung mehr zu Herzen nehmen, anstatt sich ständig übervorsichtig hinter ihrem Neutralitätsstatus zu verstecken, selbst wenn es um indirekte Waffenlieferungen an die um ihre Existenz kämpfende Ukraine geht.
Doch noch Schweizer Munition für die Ukraine?
Immerhin scheint zwei Jahre nach dem russischen Überfall wieder etwas Bewegung in dieses unrühmliche Kapitel zu kommen. Wie der «Tages-Anzeiger» vor kurzem berichtete, versuchen in Bern Fraktionsvertreter der FDP, SPD und der Mitte sich auf eine Gesetzesanpassung zu verständigen, die es Ländern wie Deutschland und Dänemark erlauben würde, erworbene Schweizer Waffen an die Ukraine weiterzugeben. Die Lockerung würde darin bestehen, dass künftig nicht mehr die Schweiz, sondern das Waffen kaufende Land entscheidet, ob diese an die Ukraine exportiert werden können. Grüne und SVP haben sich zwar in der sicherheitspolitischen Kommission grundsätzlich gegen eine solche Lösung ausgesprochen. Doch bestehen offenbar einige Hoffnungen, dass am Ende im Parlament doch noch eine Mehrheit zustande kommt, die es westlichen Ländern ermöglichen würde, in der Schweiz gekaufte Munition etwa für den Flugabwehr-Panzer «Gepard» an die Ukraine weiterzugeben.
Angesichts der glasklaren Bestimmung in der Uno-Charta zum Selbstverteidigungsrecht eines angegriffenen Staates und dem ausdrücklichen Recht, diese Verteidigung auch durch kollektive Hilfe anderer Länder zu stützen, wäre eine solche Abkehr von der rigorosen Blockierung selbst indirekter Waffenhilfe im Falle der Ukraine längst fällig. Vom Wehgeschrei der Neutralitätsfundamentalisten und der Kreml-Propagandisten, die den Angreifer Putin als «Missverstandenen» und den Verteidiger Selenskyj als «Kriegstreiber» titulieren, sollte die Schweiz sich nicht länger ins solidarische Abseits treiben lassen.