Der Jerusalemer Tempelberg ist den Muslimen so heilig wie den Juden und steht oft im Brennpunkt von Streitigkeiten. Die am Freitag ausgebrochenen Unruhen machen Sicherheitskräfte und Politik nervös. Gewaltausbrüche stärken stets die Extremisten beider Seiten.
Zehn Monate nach den letzten heftigen Unruhen in der Jerusalemer Altstadt und dem Abschuss von Raketen der islamistischen Hamas in Richtung Jerusalems war die Befürchtung israelischer Sicherheitsbehörden und auch Politiker bereits seit Wochen gewachsen, dass sich Ähnliches nun wiederholen könnte. Mit dem Unterschied zwar, dass letztes Mal eine Welle von Unruhen und Blutvergiessen zwischen Arabern und Juden in Israel die Folge war, während diesmal eine Reihe von Anschlägen israelischer Araber auf Juden den Auftakt gemacht hatte.
Festzeiten der drei Religionen
Allen schien klar, dass dieser Freitag ein kritisches Datum werden würde – wie immer, wenn Feiertage der drei Weltreligionen zeitlich zusammenfallen: Das jüdische Pessach-Fest zum Gedenken an den Auszug aus Ägypten beginnt am Abend des zweiten Freitags im muslimischen Fastenmonat Ramadan, und die Christen bereiten sich an diesem Tag, dem Karfreitag, auf ihr Osterfest vor.
Im Zentrum dieser Feiertage steht für Juden und Muslime der sogenannte Tempelberg («Har Ha Bayit» für die Juden oder «Haram a-Sharif» für die Muslime). Hier stand einst der jüdische Tempel (von dem nur dieKlagemauer geblieben ist) und seit dessen Zerstörung die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom zum drittwichtigsten Heiligtum des Islam wurden.
Schutzmacht Jordanien
Als Israel im Sechstagekrieg 1967 Ostjerusalem eroberte, wurde Jordanien zur Schutzmacht für diese heiligen Stätten ernannt. Amman nimmt diese Aufgabe auch sehr ernst, obwohl es nicht verhindern kann, dass es zwischen Israelis und Palästinensern immer wieder zu Streitigkeiten über die Heiligen Stätten kommt. Besonders die Ultraorthodoxen auf beiden Seiten sind nicht bereit zu Kompromissen. Politische Kreise nutzen dies immer wieder aus, um mehr Unterstützung von ihrer jeweiligen Bevölkerung zu erhalten.
Auf israelischer Seite gilt dies praktisch für alle Regierungen seit der Eroberung Ostjerusalems, besonders aber für die unter dem Likud des langjährigen Premiers Benjamin Netanjahu. Aber auch Nachfolger Naftali Bennett (seit knapp einem Jahr im Amt) verfolgt denselben Kurs. Er provoziert damit jene Palästinenser, die sich vom Führungswechsel mehr Friedfertigkeit und Kompromissbereitschaft erhofft hatten. Da dies bisher ausgeblieben ist, wächst die Zahl der Frustrierten und Enttäuschten sowie deren Bereitschaft zu Protesten. Dass diese Entwicklung ein Risiko darstellt für eventuelle neue Friedensinitiativen, wird gerade in diesen Tagen wieder von der jordanischen Führung angemahnt, stösst aber immer mehr auf taube Ohren in Jerusalem.
Jordanien war nach Ägypten der zweite arabische Staat, der Frieden mit Israel schloss. Dieses Abkommen hat sich vor dem geschilderten Hintergrund aber zu einem kühlen Frieden entwickelt. Ähnliches droht auch mit dem einen oder anderen arabischen Staat zu geschehen, der einen der «Abraham-Friedensverträge» mit Israel unterzeichnet hat.
Angst vor neuer Eskalation
Die Unruhen vom Karfreitag in Jerusalem gingen zwar noch nicht auf einen Versuch Israels zurück, seine Kontrolle über den Tempelberg – und damit über die wichtigsten Heiligen Stätten – zu übernehmen. Das Hauptmotiv für den Einsatz von Sicherheitskräften war wahrscheinlich wirklich die Angst vor einer neuen Eskalation, die womöglich heftiger als letztes Jahr ausfallen könnte. Bewaffnete haben auf dem Tempelberg aber nichts zu suchen. Weder Demonstranten – gleich welcher Nationalität – noch Polizei, erst recht nicht Militär. Jeder Einsatz dieser Art verschlechtert die Gesamtlage und führt dazu, dass neue Proteste und Gewalttaten folgen und der Frieden in noch weitere Ferne rückt.
Mindestens 150 Personen wurden am Karfreitag verletzt, die Zahl der Festgenommenen soll über 400 betragen. Die am weitesten reichenden Folgen aber könnte die Warnung eines Mitgliedes einer arabischen Koalitionspartei im Kabinett Bennett haben: Wenn die Regierung ihre Haltung nicht ändere, werde er die Koalition verlassen. Käme es so weit, dann würde die Regierung höchst wahrscheinlich ihre Mehrheit verlieren, und es käme zu einem noch deutlicheren Rechtskurs. Vielleicht sogar zur Rückkehr Netanjahus.