Der zu Recht vieldiskutierte Gender Pay Gap ist ein Klacks im Vergleich zu den in der Schweiz je nach Wohnort weit auseinanderklaffenden Steuerbelastungen. Warum bloss wird über diese enormen Ungleichheiten kaum geredet?
Seit der Französischen Revolution gelten Ungleichheiten, die sich nicht mit allgemein als übergeordnet anerkannten Gründen rechtfertigen lassen, als Missstände. Dazu zählen in unseren Tagen die «nicht erklärbaren» Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern bei gleicher und gleichwertiger Arbeit. Es gibt heute vermutlich niemanden mehr, der für die Differenz von Frauen- und Männerlöhnen «übergeordnete Gründe» in Anspruch nimmt. Dementsprechend wird der Gender Pay Gap in der Öffentlichkeit als Skandal wahrgenommen. Richtigerweise – wenn auch der fortgesetzte Missbrauch des Themas zur Blockierung der überfälligen Reform der Altersvorsorge mit (unter anderem) gleichem Rentenalter für Frauen und Männer ein Ärgernis ist.
Um eine andere, wesentlich grössere Ungleichheit als die bei Frauen- und Männerlöhnen jedoch bleibt es erstaunlicherweise fast völlig still: Die Steuerbelastung kann in der Schweiz je nach Wohnort bis zum Siebenfachen variieren. Das hat kürzlich der «Tages-Anzeiger» in einem Vergleich der Gesamtbeträge der Einkommenssteuern von Gemeinde, Kanton und Bund aufgrund von Daten der Eidgenössischen Steuerverwaltung aufgezeigt.
Die Kantone legen ihre Steuern autonom fest und stehen dabei im harten Wettbewerb zueinander. Namentlich die Innerschweizer Steuerparadiese Zug, Schwyz, Obwalden und Nidwalden haben aus der Anlockung und Abwerbung reicher Privatpersonen und Firmen ein politisches Geschäftsmodell gemacht. Auf der unteren Ebene der Gemeinden spielt in sämtlichen Kantonen nochmals der gleiche Mechanismus. Dadurch kumuliert sich das Konkurrenzverhalten von Kantonen und Gemeinden und bewirkt so die exorbitanten Ausschläge nach unten und oben.
Gibt es hierfür vielleicht «übergeordnete Gründe»? Verteidiger des Status quo pflegen mit den Stichwörtern Gemeindeautonomie und eidgenössischer Föderalismus zu antworten. Doch kommunale und kantonale Machtbefugnisse sind keine Zwecke an sich, sondern Mittel zur Erfüllung der allgemeinen politischen Aufgaben, als da sind: die durch Partizipation und Recht gesicherte Freiheit und die mit den erforderlichen staatlichen Institutionen und Infrastrukturen ermöglichte Wohlfahrt.
Föderalismus und Gemeindeautonomie sind gut, sofern sie der Erfüllung dieser politischen Hauptzwecke im ganzen Land dienen. Das Prinzip der Organisation von unten nach oben, die Subsidiarität also, ist in etlichen Bereichen staatlichen Handelns sicherlich das geeignetste Modell. Beim jetzigen Steuerwettbewerb, der zu exzessiven Ungleichheiten führt, erweist sich die politische Priorisierung der Gemeinde- und Kantonsautonomie jedoch für die Gesamtheit des Landes als toxisch.
Befürworter eines möglichst ungehinderten Steuerwettbewerbs argumentieren gern mit dessen Nutzen für die Einzelnen: Nur dank solcher Konkurrenz gingen die Gemeinden und Kantone haushälterisch mit Steuergeldern um. Da wird schon etwas dran sein. Doch indem diese Argumentation unterstellt, die Kritiker der Ungleichheits-Exzesse wollten gleich jede föderale Ordnung und jeden Wettbewerb zwischen politischen Körperschaften eliminieren, macht sie es sich zu einfach. Es geht nicht um die Abschaffung, sondern um die Bändigung des Steuerwettbewerbs.
Leider aber wird das Problem kaum diskutiert. Niemand will sich daran die Finger vrebrennen. Wo ist die Partei, die mit einer klaren, konkreten Zielsetzung für die Steuerpolitik die überfällige Diskussion lanciert? Wo die politische Bewegung, die sich eine Überwindung der föderalistischen Übertreibungen auf die Fahne schreibt?
Dank einstmals leidenschaftlich vorangetriebener Ideen haben wir heute die AHV und das Frauenstimmrecht. Die Überwindung eines hemmungslosen und völlig unsolidarischen Eigennutzens, der sich hinter dem unantastbaren Föderalismus versteckt, ist eine Aufgabe von ähnlicher Grössenordnung. Der Zeitgeist ist ihr zweifellos nicht förderlich. Entsprechend wird es ein langer Weg sein bis zur Beseitigung der extremen steuerlichen Ungleichheit. Doch warum sollte es dauerhaft unmöglich sein, eine Steuerpolitik zu entwickeln, bei der die maximalen Belastungsunterschiede statt dem Siebenfachen nur noch, sagen wir, das Doppelte betragen?