Entgegen allen Prognosen haben die Sozialisten von Ministerpräsident Costa bei der Parlamentswahl vom Sonntag die absolute Mehrheit gewonnen. Es ist eine Mehrheit, an die sie selbst zuletzt nicht geglaubt hatten. Gefeiert hat ausser ihnen vor allem die rechtspopulistische und xenophobe Partei Chega, die zur drittstärksten Kraft aufrückt.
Die Meinungsforschungsinstitute in Portugal stecken wieder einmal in Erklärungsnot. An diesem Sonntag ist die vorgezogene Parlamentswahl jedenfalls ganz anders ausgegangen, als nach den meisten Umfragen der Vorwoche zu erwarten war. Sie hatten dem bisher regierenden Partido Socialista (PS) von Ministerpräsident António Costa meist einen knappen Sieg in Aussicht gestellt, mit unter 40 Prozent der Stimmen und einem Vorsprung von nur drei oder vier Prozentpunkten vor dem bürgerlichen Partido Social Democrata (PSD). Letzterer hoffte auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Eine «Mehrheit des Dialogs»
Hatte António Costa, der seit 2015 ohne absolute Mehrheit regiert, wirklich auf Neuwahlen gesetzt? Hatte er im Oktober 2021 in der Hoffnung auf eine absolute Mehrheit das Nein der Parlamentsmehrheit zum Entwurf für das Staatsbudget 2022 in Kauf genommen? Wenn ja, dann schien es in den letzten Wochen so, als habe er sich verkalkuliert. Im Wahlkampf mied er es zunächst, sich eine «absolute Mehrheit» zu wünschen, obwohl er keinen Hehl daraus machte, dass er ohne Partner regieren wollte. Er brachte das Unwort «absolut» dann doch über die Lippen, gewöhnte es sich aber schnell wieder ab. Angesichts weniger guter Umfragen zeigte er sich plötzlich wieder offen für die Verständigung mit anderen Parteien.
Am Wahlabend kam die Überraschung. Mit nur 41,7 Prozent der inländischen Stimmen kam der PS auf 117 der insgesamt 230 Sitze im Parlament, von denen bisher nur 226 vergeben wurden (hinzu kommen noch je zwei Abgeordnete für die Wahlkreise im europäischen Ausland und in Übersee). Als Costa kurz nach Mitternacht vor die Fernsehkameras trat, schien er sich für seine absolute Mehrheit fast entschuldigen zu wollen – wohl wissend, dass sein Volk solchen Mehrheiten misstraut. «Absolute Mehrheit bedeutet nicht absolute Macht», versicherte er, und versprach eine «Mehrheit des Dialogs». Er wollte die Portugiesen gar «mit der Idee der absoluten Mehrheiten aussöhnen».
So «billig» war eine absolute Mehrheit noch nie
Dies war seit dem Inkrafttreten der demokratischen Verfassung erst das vierte Mal, dass eine Partei allein eine absolute Mehrheit im Parlament errang. Zweimal – nämlich 1987 und 1991 – gelang dies dem PSD unter dem damaligen Regierungschef, Aníbal Cavaco Silva, und zweimal den Sozialisten – 2005 unter José Sócrates und jetzt unter Costa. Noch nie hatte eine Partei mit einem so niedrigen Stimmenanteil die absolute Mehrheit erringen können wie seine Sozialisten an diesem Sonntag.
Wie ist das Ausmass dieses Sieges zu erklären? Costas Sozialisten dürften zunächst von äusserst empfindlichen Verlusten der kleineren Parteien links von ihnen profitiert haben. Womöglich haben nicht zuletzt die Umfragen, die den Sozialisten einen eher knappen Sieg prophezeit hatten, Wählerinnen und Wähler dazu bewogen, zur Abwendung eines Rechtsrucks auf Nummer sicher zu gehen. Zu erklären bleibt noch, wie sich der Anstieg der inländischen Wahlbeteiligung auf 58 Prozent, gegenüber 54,5 Prozent im Jahr 2019, ausgewirkt hat.
Neue Rechtsparteien im Aufwind, kleinere linke Parteien stürzen ab
Als zweite, dritte und vierte Kraft gingen Parteien des bürgerlichen und rechten Lagers aus der Wahl hervor. Mit 29,3 Prozent der Stimmen kam der PSD als bisher grösste Oppositionspartei auf 76 Mandate. Kräftige Zugewinne verzeichneten zwei junge Parteien, die 2019 erstmals je einen Sitz errungen hatten. Auf 7,2 Prozent der Stimmen und 12 Mandate kam als fortan drittstärkste Partei die rechtspopulistisch-xenophobe Partei Chega, die sich als «anti-sistema» definiert und vergeblich gehofft hatte, bei der Bildung einer rechten Regierung mitreden zu können. Mit knapp 5 Prozent der Stimmen errang die «Liberale Initiative» 8 Mandate. Gar nicht mehr im Parlament vertreten ist hingegen der Partido Popular (CDS-PP), die alteingesessene konservative Partei, die schon viel bessere Zeiten erlebt hatte und ihre zuletzt 5 Mandate allesamt verlor.
Die Sozialisten haben derweil vor allem links «abgeräumt». Es hat den Anschein, als hätte das Stimmvolk die Parteien links der Sozialisten für ihr Nein zum Budget «bestraft». Nur noch 4,4 Prozent der Stimmen erhielt die kommunistisch-grüne Allianz CDU, die nur die Hälfte ihrer bisher 12 Sitze behält. Ihre fortan 6 Abgeordneten sind allesamt Kommunisten, die Grünen sind nicht mehr im Parlament vertreten. Noch stärkere Verluste erlitt der alternative Linksblock, der 4,5 Prozent der Stimmen erhielt und dessen Fraktion von bisher 19 auf 5 Mitglieder schrumpft. Auf je ein Mandat (gegenüber 4 bei der Wahl von 2019) kamen die Partei für Menschen-Tiere-Natur PAN und die linke Splitterpartei Livre (sie hatte 2019 ihr bisher einziges Mandat errungen).
Auch der Staatspräsident als «Verlierer» dieser Wahl?
Als einen Verlierer dieser Wahl sehen manche Medien derweil auch den recht populären Staatspräsidenten Marcelo Rebelo de Sousa. Ihm wird nachgesagt, dass er für die nächsten Jahre einen Weg der politischen Mitte bevorzugt hätte, als Folge einer Annäherung zwischen den zwei grössten Parteien. Er selbst hatte in den fernen 1990er Jahren ja zeitweise an der Spitze des PSD gestanden. Manche alten Parteifreunde hätten sich vom Rechtsprofessor Marcelo öfter härtere Worte gegenüber der von seinem einstigen Schüler Costa geführten Regierung gewünscht.
Der Präsident hatte sich in den letzten Jahren immer wieder, und öfter als die meisten seiner Vorgänger, zu aktuellen Fragen geäussert. Nun könnte sein Handlungsspielraum begrenzt sein – es sei denn, dass er gegen Missbräuche der absoluten Mehrheit auf den Plan treten muss.
Costa kann, wenn alles gut geht, vier Jahre lang ohne Mehrheitsbeschaffer auskommen. Europäische Sozialdemokraten und Sozialisten wie Olaf Scholz und Pedro Sánchez mögen ihn da beneiden. Costa hat aber keine Ausreden dafür, wenn es im Land nicht wirtschaftlich endlich spürbar aufwärts geht. Mit seinen Hinweisen auf das Wachstum in den Jahren vor der Pandemie blendet er aus, dass Portugal in den letzten zehn Jahren im Vergleich zu manchen anderen EU-Ländern zurückgefallen ist. Noch immer zählt Portugal zu den ärmsten Ländern der EU. Gemessen am kaufkraftbereinigten Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukt ist es in den letzten 10 Jahren von Estland und Litauen überholt und von Polen eingeholt worden.
Parteiengefüge im Umbruch
Was bleibt vom System von einst vier Parteien, die nach dem Sturz der faschistischen Diktatur im Jahr 1974 die Polit-Szene im Land dominiert hatten? Als einzige organisierte Kraft hatten die Kommunisten (PCP) die Diktatur überstanden. Als anfangs sehr links gab sich auch der von Mário Soares (1924–2017) geführte PS, der 1973 im deutschen Bad Münstereifel gegründet worden war und, anders als PCP, mehr in einer aufgeklärten republikanischen urbanen Mittelschicht als in der Arbeiterschaft verankert war. Ganz rechts trat, mit Hilfe der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Centro Democrático Social (CDS, heute CDS-PP), auf die Bildfläche. Er galt nicht zuletzt als Brücke für Anhänger der gestürzten Diktatur in die junge Demokratie. Als Sammelbecken für diejenigen, die weder der Diktatur nachtrauerten noch ganz links standen, bot sich der Partido Popular Democrático (damals PPD), der heutige PSD.
Geblieben sind, als tragende Säulen des Systems, PS und PSD. Stark an Stimmen verloren haben derweil die Kommunisten. Sie hatten ihre Basis einst vor allem im Grossraum Lissabon/Setúbal mit seinen industriellen Grossbetrieben und in der Südregion Alentejo, wo einst die Latifundien dominierten. Nur haben viele Grossbetriebe nicht überlebt, und von der Agrarreform, die nach 1974 für Hoffnung im Alentejo gesorgt hatte, ist nichts mehr übrig. Ganz rechts ist nun CDS-PP wenigstens im Parlament von der Bildfläche verschwunden.
Neben den Kommunisten hat sich seit den späten 1990er Jahren der Linksblock als alternative Linke profiliert. Rechts der Mitte haben sich ebenfalls politische Marktlücken aufgetan. In eine dieser Lücken stiess jetzt die xenophobe Partei Chega. Eine andere Lücke beansprucht die Liberale Initiative, die sich gesellschaftspolitisch wie auch wirtschaftlich liberal gibt. Sie befürwortet etwa die straffreie Sterbehilfe, ruft vor allem aber nach einem schlankeren Staat und niedrigeren Steuern, womit sie sich leicht dem Verdacht der populistischen Versuchungen aussetzt. Und in Portugal hat die Vokabel «liberal» unterschiedliche Beiklänge. Geht es um den Bürgerkrieg der Jahre 1832–1834, in dem die liberalen Kräfte über die Absolutisten siegte, ist die Vokabel positiv besetzt. Mit aktuellem Bezug aber wird sie leicht als Synonym für «ultraliberal» verstanden. Weil erst einmal die Sozialisten die absolute Mehrheit haben, müssen diese Parteien aber noch eine Weile warten, bis sie wirklich mitreden können.