Wie kam er nach Marseille? Es war in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, in denen Peter Kurzeck das Gefühl hatte, die Sommer würden immer schöner, die Welt würde irgendwie besser und er selbst habe seinen Anteil daran. Und das, obwohl er selbst materiell gesehen keineswegs auf der Sonneseite stand.
Als Flüchtlingskind im hessischen Staufenberg war er nicht auf Rosen gebettet, sondern ging 1957, erst vierzehn Jahre alt, von der Volksschule ab und trat eine Lehre als kaufmännischer Angestellter an. Danach verdiente er seinen Lebensunterhalt in der Personalabteilung des amerikanischen Militärs in Giessen.
Das Telegramm
Aber da waren die Freunde, die Träume, die Hippies, die Beatles, das Haschisch, der Alkohol und vor allem: die Leichtigkeit des Seins. Man kaufte billig alte Autos, mit denen man ohne viel Federlesens auf Reisen ging. Und an einem Wochenende geschah es nun, dass ein Freund von ihm gemeinsame Freunde nach Strassburg bringen wollte. Und als man in Strassburg war, fuhr man weiter nach Lyon und landete schliesslich in Marseille.
Unnachahmlich schildert Kurzeck den Zauber, den das Marseille der 60er Jahr auf ihn ausübte. Aber da gab es ein kleines Problem. Mittlerweile war es Montag geworden, und eigentlich hätte er im Büro sein müssen. Wie also nun seine ungeplante und natürlich nicht angekündigte Abwesenheit mitteilen? Damals war ein Ferngespräch eine umständliche Angelegenheit. Er versuchte vergebens, von einem Postamt aus, sein Büro zu erreichen. Dann gab er ein Telegramm auf: „Unerwartet Marseille. Rückkehr verhindert“. Zu seinem eigenen Erstaunen konnte er seinen Job danach behalten.
Die Liebe zu Prag
Treffsicher setzt Kurzeck seine Pointen in den Anekdoten, aber er erzählt weit mehr. Er erzählt, was er als junger Mensch empfunden hat und wie er sich in der Welt bewegte. Venedig, Pula in Istrien, die Tschechoslowakei und Schweden sind seine Stationen. Besonders Prag hat es ihm angetan. Er hat dort Liebesbeziehungen, und das Jahr 1968 ist natürlich besonders prägend.
Seine Beobachtungsgabe ist phänomenal. Er lässt kleinste Details aufschimmern und die charakterisieren wiederum die jeweilige Situation und das Milieu. Aber er scheut sich auch nicht, bei seinem Vortag vor dem vollen Hörsaal der Universität Siegen, von dem die Aufnahme der Doppel-CD stammt, einzugestehen: Den Namen dieser Strasse oder jenes Hotels habe ich vergessen. - Noch Jahrzehnte später improvisiert Kurzeck wie schon in seiner Jugend.
Der rote Faden
Es gibt allerdings einen zunächst verborgenen roten Faden in seinen Geschichten. Das ist sein Weg in die Existenz eines Schriftstellers. Nächtelang hat Kurzeck in seiner Zeit als Angestellter geschrieben, wobei er ohnehin dazu neigte, ganz oder teilweise auf Schlaf zu verzichten. Schlafmangel führe bei ihm zu einer speziellen Art der Wachheit, wie übrigens früher auch der Alkohol, dem er mittlerweile entsagt hat. Aber eines Tages habe er, kurz vor seinem zehnjährigen Dienstjubiläum, seinen Job quittiert. Ungeheuer habe er es genossen, über das Gut der Zeit nach Belieben verfügen zu können. So habe er alle Werke von Knut Hamsun, etwa 10.000 Seiten, in ihrer chronologischen Ordnung gelesen.
Für seine Arbeit als Schriftsteller hat Peter Kurzeck zahlreiche bedeutende Preise und Auszeichnungen erhalten. Seine Romane kreisen um seine Erinnerungen, wobei er einen Stil entwickelt hat, der an Arno Schmidt, Uwe Johnson und James Joyce erinnert. Seine Lesungen und Hörbücher sind immer wieder auf Begeisterung gestossen. Denn sie leben von der Fähigkeit Kurzecks, seinen hohen literarischen Anspruch auf bisweilen sehr unterhaltsame Weise zur Geltung zu bringen.
Unerwartet Marseille. Peter Kurzeck erzählt. Live-Mitschnitt aus der Universität Siegen vom 25. Mai 2011. Regie / Herausgabe: Jörg Döring, Stroemfeld Verlag, 2 CDs, 120 Minuten, Frankfurt 2012