Das Schweizer-Haus ist renovationsbedürftig. Viel zu lange bremsten vergangenheits- oder ideologieorientierte verharrende Kräfte politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Doch seit den National- und Ständeratswahlen diesen Herbst hat sich der Wind des Wandels aufgefrischt. Reformresistente Parteien verstehen die Schweiz nicht mehr. Junge Kräfte haben gepunktet – weil sie wählen gingen. Damit verbessern sich die Voraussetzungen für überfällige Reformen des Geschäftsmodells Schweiz. Es ist höchste Zeit.
Kooperation als Voraussetzung
Bevor ein Gebäude mit Eigentumswohnungen renoviert wird, müssen sich alle involvierten Eigentümer über die Massnahmen einig werden. Passiert das nicht, bleiben dringende Sanierungsfälle oft jahrelang blockiert. Die Folge: Grössere Schäden, höhere Kosten. In neueren Verträgen muss sich deshalb nur noch eine einfache Mehrheit der Eigentümer einig werden; die Vorteile sind eminent.
Wenn wir vom Schweizer-Haus reden haben in der Vergangenheit sehr oft die beiden politischen Pole dringende Reformschritte blockiert. Man sprach von „unheiligen Allianzen“. Nach den eidgenössischen Wahlen diesen Herbst hat die „grüne Welle“ Wahlprognosen gleich haufenweise weggespült. Historisch ist der Sprung des Frauenanteils nach oben, rund ein Drittel höher liegt er nun. Besonders junge Frauen sind auf dem Vormarsch und Frauen wird im Allgemeinen mehr Kompromissfreudigkeit zugestanden als Männern. Ob nun deshalb in nächster Zeit konkrete Reformschritte im Bundeshaus aufgegleist werden – wir sind zuversichtlich. Wird 2019 zur Wegmarke? Aufbruch statt Stagnation?
Das Ende der Zauberformel
Die gute alte Zauberformel zur Verteilung der Bundesratssitze hat ausgedient. Dies signalisiert ein neues Verständnis für Veränderungen, was natürlich nicht allen Parteien gelegen kommt. Wenn junge Kräfte das Machtkartell der etablierten Bewahrer in Frage stellen, wird der Weg geebnet für das Traktandieren essenzieller Zukunftsfragen. Seit Jahren stapeln sich solche im Warteraum, etwa das Verhältnis Schweiz zur EU, Massnahmen gegen die Klimaerwärmung, Antworten auf Globalisierung und Digitalisierung, Altersvorsorge.
Hoffnung keimt
„Die laufende Legislaturperiode ist eine verschwendete“, schrieb die NZZ im Frühling 2019 und „die kommenden Wahlen bringen zwar kaum Aussicht auf Besserung, allein, die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Dem ersten Teil dieses Satzes ist zuzustimmen, dem zweiten glücklicherweise nicht. Die Wahlen haben in weit grösserem Ausmass, als die Prognose-Auguren je dachten, die Ausgangslage im Bundeshaus verändert und das ist gut so.
In diesem Beitrag wird eine provisorische Liste der grossen helvetischen Baustellen aus persönlicher Sicht erstellt, sie ist nicht verbindlich, aber dringlich:
Verhältnis der Schweiz zur EU
Massnahmen gegen die Klimaerwärmung
Konsequenzen der Globalisierung und Digitalisierung
Altersvorsorge / Demografie
Landwirtschaft.
Verhältnis der Schweiz zur EU
Das An-Ort-Treten der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker in Sachen Schweiz–EU ist augenfällig. Vor den Herbst-Wahlen wollte sich niemand die Finger verbrennen. Also wartet man ab. Der Bundesrat wartet auf die Sozialpartner. Die Parteien auf den Bundesrat. Die Medien wissen (oder wissen sie es etwa gar nicht?), dass der vorliegende Vertragsentwurf beim Volk scheitern würde. Wenn sie sich auch diesmal täuschen, wenn das Volk eher das Ganze als Partikularinteressen im Fokus hätte? Abwarten und Tee trinken könnte sich eines Tages rächen.
Massnahmen gegen die Klimaerwärmung
Die gern herumgebotene klägliche Ausrede, die Schweiz könne den Klimawandel eh nicht stoppen, mag seine Richtigkeit haben. Doch nach dieser Ausrede in den neuen SUV (Realer Benzinverbrauch über 15l/km) zu sitzen und stolz zu verkünden, der Klimawandel sei ein natürlicher Prozess, wie es nach wie vor von gewissen Seiten der SVP tönt, ist angesichts der gegenteiligen Beweise schon fast sektiererisch. Das neue Parlament dürfte griffige Massnahmen, die den Namen verdienen, aufgleisen. Die Vorschläge des Professors von der Uni Freiburg, wie die Schweiz zum Vorbild für Europa mutieren könnte, sollten erhört werden. Auch zum finanziellen Vorteil der Schweizer Wirtschaft.
Konsequenzen der Globalisierung und Digitalisierung
So mit der Zeit realisieren wir die zwei Seiten der Globalisierung. Die steigenden Handelsvolumen und Produktionsverlagerungen haben mehr Wohlstand in grosse Teile der Welt gebracht. Doch leider, was bisher zu wenig zur Kenntnis genommen wurde: die Globalisierung schadet gleichzeitig der Umwelt; die Rodung der Regenwälder und die CO₂-Bilanz des riesigen Transportvolumens sind nur zwei der vielen Folgen. Im Nachklang zur Klimadebatte zeichnet sich ein Wandel im Konsumentenverhalten ab, der beide Trends betreffen wird.
Die Folgen der Digitalisierung werden vielerorts verteufelt, ähnlich wie es damals viele Arbeitende im Zug der Industrialisierung taten. Der Brand von Uster ist und bleibt ein Mahnmal für die Schweiz. Die Befürchtungen und Prognosen bezüglich steigender Arbeitslosen waren allesamt falsch. Sie sind es wohl auch heute.
Altersvorsorge/Demografie
Seit Jahren wissen wir um die Schieflage unserer AHV und Altersvorsorge. Die Alten (Rentner) im Land leben auf Kosten der Jungen, was die Langfristprognosen längst beweisen. Das heikle Thema wird von unseren Politikerinnen und Politikern in Bern schlicht verdrängt. Kein Ruhmesblatt.
Wie sich unsere Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten bezüglich Lebenserwartung verändern wird, es darf – entgegen den üblichen Prognosen – vor einer voreiligen Annahme gewarnt werden. Ein Szenario mit 110 Jahren Lebenserwartung für die heute Geborenen zu entwickeln, diese lineare Fortschreibung des aktuellen Trends, ist abenteuerlich. Es sei daran erinnert, dass in den USA die Lebenserwartung seit mehreren Jahren wieder abnimmt. Seit 75 Jahren hat sich noch jeder neue Gesellschaftstrend Jahre später auch in Europa manifestiert.
Landwirtschaft
Es ist zu hoffen, dass sich die Klimadebatte auch in der Schweizer-Landwirtschaft bemerkbar macht. Es braucht dringend neue Denkformen, weg von der „Subventionitis“. Wenn unser Trinkwasser bedenkliche Giftrückstände aufweist, wenn wir jährlich den eigenen Konsum mit Millionen von Schutzzöllen verteuern und z. B. Zucker anbauen, der uns ein Vielfaches kostet als im Welthandel – spätestens mit dem neu zusammengesetzten Parlament müssen die Alternativen auf den Tisch kommen. Es gibt mutige Perspektiven – sie müssen nur aus den Schubladen geholt werden.
Den Vorwurf der Reformunfähigkeit der Schweiz zu erheben sollte nicht als generelle Kritik missverstanden werden. Viel mehr gilt es zu bedenken, dass Reformvorschläge aus Liebe zur Heimat gedacht sind und um zu vermeiden, dass Reformen uns eines Tages vom Ausland aufgezwungen werden. Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr eignen sich im besonderen Masse zum Nachdenken.