Seine Rückkehr aus dem Exil in Südafrika war von langer Hand vorbereitet. Tatsache wurde sie, nachdem ihm die Regierung unter dem scheidenden Staatsoberhaupt René Préval einen Diplomatenpass ausgestellt hatte. Am Freitagmorgen, zwei Tage vor der Präsidentenstichwahl, landete Jean-Bertrand Aristide zusammen mit seiner Frau Mildred an Bord einer Sondermaschine auf dem Flughafen der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Laut einheimischen Medienberichten warteten tausende Anhänger auf den Ex-Präsidenten, der unter den unzähligen Ärmsten im Land nach wie vor sehr beliebt ist. Mitte Januar war bereits der frühere Diktator Jean-Claude Duvalier nach 25 Jahren aus dem französischen Exil zurückgekehrt, zum Leidwesen der internationalen Staatengemeinschaft und vieler seiner Landsleute.
Der 57-jährige Aristide hatte vor seiner Heimkehr mehrmals versichert, dass er keine Machtposition mehr anstrebe, sondern den Haitianern „als einfacher Bürger im Bildungsbereich“ dienen wolle. Es fällt jedoch schwer zu glauben, dass er tatsächlich in Zukunft die Finger von der Politik lassen wird. Warum ist er dann ausgerechnet unmittelbar vor den Wahlen zurückgekommen? Sowohl US-Präsident Barack Obama als auch Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon hatten versucht, ihn zu einem Aufschub der Rückreise zu bewegen, weil sie befürchteten, dass seine Anwesenheit die ohnehin schwierige Lage zusätzlich destabilisieren könnte. Doch Aristide liess sich nicht umstimmen.
Zu der von ihm angekündigten politischen Enthaltsamkeit passt auch schlecht, dass er unmittelbar nach der Landung in Port-au-Prince die Wiederzulassung seiner Partei Fanmi Lavalas forderte. Die Bewegung durfte aus formellen Gründen nicht an den Wahlen teilnehmen, bei denen das neue Staatsoberhaupt erkoren und über die Zusammensetzung des Parlaments entschieden wurde. Der Ausstich um das Amt des Staatsoberhauptes soll Haiti endlich ein Minimum an politischer Stabilität bringen. Nach der ersten Runde war wochenlang über das Ergebnis gestritten worden, bis die Wahlkommission schliesslich bekannt gab, dass die ehemalige First Lady und Jura-Professorin Mirlande Manigat und der populäre Musiker Michel Martelly im entscheidenden zweiten Urnengang gegeneinander antreten werden. Der Regierungskandidat Jude Célestin fiel damit aus dem Rennen.
Diktatoren und Demagogen
Das Ergebnis der Stichwahl liegt noch nicht vor. Fest steht aber, dass auf die Siegerin oder den Sieger nahezu unlösbare Aufgaben warten. Ein gutes Jahr nach der Erdbebenkatastrophe, bei der schätzungsweise 250 000 Menschen starben, herrschen im ärmsten Staat der westlichen Hemisphäre weiterhin Elend und Leid. Der Wiederaufbau in den verwüsteten Gebieten geht nur schleppend voran, die Lage eines grossen Teils der zehn Millionen Haitianer ist nach wie vor dramatisch. Mitte Oktober des vergangenen Jahres brach zu allem Elend auch noch die Cholera aus, an der 2011 laut einer US-Studie bis zu 800 000 Menschen erkranken könnten.
Aus eigener Kraft wird Haiti den nach dem Erdbeben einmal mehr beschworenen „Neuanfang“ nicht schaffen. Die seit mehr als 200 Jahren unabhängige Karibikrepublik, deren Geschichte nicht bloss von Naturkatastrophen, sondern auch von Unterdrückung, Umstürzen, häufigen Präsidentenwechseln, Korruption und Klientelwesen geprägt ist, wird in ihrem täglichen Überlebenskampf noch jahrzehntelang auf fremde Hilfe angewiesen sein. Auf dem steinigen Weg in eine Gesellschaft freier Männer und Frauen und zu einer Nation mit funktionierenden Institutionen sind die Haitianer immer wieder gestrauchelt. 1791 erhoben sich die Schwarzen, die seit dem 16. Jahrhundert als Sklaven für die Zuckerrohrplantagen aus Afrika verschleppt worden waren. Nach einem langen und blutigen Befreiungskrieg riefen sie am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit aus. Sie waren unwissend, weil die französischen Kolonialherren ihnen den Zugang zur Bildung verwehrt hatten. Ihre einzige gemeinsame Sprache war die ihrer ehemaligen Unterdrücker, und sie kannten bloss die Strukturen der Sklaven-Baracken. Diese schlechten Startbedingungen haben wesentlich dazu beigetragen, dass immer wieder Gewaltherrscher und Demagogen die Macht an sich reissen konnten.
Aus dem Armenviertel in den Präsidentenpalast
Besonders lang, von 1957 bis 1986, dauerte das Schreckensregime von François Duvalier („Papa Doc“) und seinem Sohn Jean-Claude („Baby Doc“). Ihre gefürchtete Privatmiliz, die „Tonton Macoutes“, unterdrückte brutal jegliche demokratische Regung im Volk. Schliesslich zwangen ständig neue Demonstrationen und der Druck der USA im Februar 1986 „Baby Doc“ aber das Land zu verlassen und nach Frankreich ins Exil zu gehen. Zu seinem Sturz hatte auch Aristide beigetragen, der in jenen Jahren als Priester in einem Elendsviertel von Port-au-Prince wirkte und dort mit seinen flammenden Plädoyers gegen Duvalier rasch populär wurde. Die Armen und Ärmsten glaubten dem charismatischen Vertreter der Befreiungstheologie, dass er sie von Not und Entbehrung erlösen werde. Sie nannten ihn liebevoll „Père Titid“ und kamen zu Hunderttausenden zu seinen Predigten. Die Kirchenführung hingegen hatte überhaupt keine Freude am radikalen politischen Engagement des streitbaren Paters und schloss ihn im Dezember 1988 aus dem Salesianerorden aus.
Aristide kümmerte das wenig. Er gründete seine eigene Partei und errang bei der Präsidentschaftswahl 1990 einen überwältigenden Sieg. Ein halbes Jahr später musste er jedoch nach einem Militärputsch fliehen und konnte erst im Oktober 1994 mit Hilfe der USA in die Heimat zurückkehren. Ende 1995 lief seine Amtszeit ab, und da die Verfassung eine direkte Wiederwahl verbietet, zog er vorübergehend die Fäden im Hintergrund. 2001 zog er wieder in den Präsidentenpalast ein, büsste in der Bevölkerung aber immer mehr an Ansehen ein. Seine Machtbesessenheit und sein luxuriöser Lebensstil, die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, massive Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Klientelwesen stiessen auf immer heftigere Kritik. Schwere Unruhen und Druck aus dem Ausland – vor allem der USA und Frankreichs – bewogen ihn 2004, zum zweiten Mal ins Exil zu gehen.
Jetzt ist er wieder daheim. Zur Freude seiner Gefolgsleute, von denen ihn viele nach wie vor wie einen Heiligen verehren. Die Mehrheit seiner Landsleute glaubt jedoch längst nicht mehr, dass er jemals ernsthaft die Absicht hegte, Freiheit und Demokratie zu fördern und die Armut ernsthaft zu bekämpfen.