Die olympischen Spiele sind vorbei, die Sommerpause ist fast zu Ende – und Frankreich hat immer noch keine neue Regierung und keinen Regierungschef. Präsident Macron lässt sich Zeit und spielt mit dem Feuer. Das Land steuert auf eine politische Systemkrise zu.
Frankreich weiss momentan nicht so recht, wie ihm geschieht. Da ist ein Präsident, der hintereinander im Juni und im Juli zwei Wahlen (Europawahlen und Parlamentswahlen) krachend verloren hat, seit Wochen aber so tut, als wäre nichts geschehen und als könne er einfach weitermachen wie bisher.
Immer wieder hat Macron einen Grund gefunden aufzuschieben, worauf das Land nun schon seit sieben Wochen wartet, nämlich dass er schlicht und einfach tut, was die Verfassung ihm vorschreibt: einen Regierungschef ernennen.
Der Verlierer spielt auf Zeit
«Ein Hinwarten», so liest man im Leitartikel der satirischen Wochenzeitung «Le Canard Enchaîné», «das den Launen eines schmollenden Buben geschuldet ist, der sich seine Niederlage nicht eingestehen will und sich weigert, die dadurch entstandenen Konsequenzen zu akzeptieren.»
Und die Tageszeitung «Le Monde» analysierte dieser Tage: «Nach der Stichwahl hatte Macrons lautes Schweigen bereits so manchen überrascht. Immerhin war ja der Zugang der extremen Rechten zur Macht im letzten Moment verhindert worden. Nachdem er mit der Parlamentsauflösung das Land auf brutale Art und Weise unter Strom gesetzt hatte, indem er diese überstürzten und schlecht vorbereiteten Parlamentswahlen ausgelöst hatte, schien Emmanuel Macron, kaum dass die Wahlen vorbei waren, das Ergebnis des Urnengangs nicht mehr zu interessieren.»
Zunächst liess der Präsident Zeit vergehen, bis er den Rücktritt der alten Regierung akzeptierte, um dann, gegen den 20. Juli hin, zu erklären, nun habe man gefälligst eine olympische Feuerpause einzulegen.
Inzwischen sind die Olympischen Spiele jedoch seit zwei Wochen zu Ende und noch immer ist kein weisser Rauch aus dem Élysée aufgestiegen. Emmanuel Macron schiebt das Chaos vor sich her, das er durch seine hanebüchene Entscheidung, nach den verlorenen Europawahlen (gerade mal 15 Prozent für die Liste seiner Partei) das Parlament aufzulösen, selbst verschuldet hat.
Niemand habe bei diesen Parlamentswahlen gewonnen, liess der Präsident nach dem 7. Juli verlauten. Mag sein. Im Grossen und Ganzen steht auch die Linke nicht wesentlich besser da als in der vorhergegangenen zweijährigen Legislaturperiode.
Klar ist allerdings, wer verloren hat, und das ist das Lager von Emmanuel Macron. Mit 170 Sitzen hat es rund 70 weniger als in den vergangenen zwei Jahren, als man auch schon nur über eine relative Mehrheit verfügte – nun trifft das Wort Mehrheit nicht einmal mal mehr zu und man darf getrost von einer «präsidialen Minderheit» in der französischen Nationalversammlung sprechen.
Lucie Castets im Wartestand
Nach den Wahlen liegt nun einmal, ob es dem Präsidenten gefällt oder nicht, die NFP (Nouveau Front Populaire) an der Spitze – das Wahlbündnis aus vier Parteien der Linken (Sozialisten, Grüne, Kommunisten und Linkspartei). Mit 193 Sitzen hat dieses Bündnis zwar auch keine Mehrheit (es fehlen fast hundert Sitze), aber – und damit hatte Emmanuel Macron mit Sicherheit nicht gerechnet – es hält auch sieben Wochen nach den Wahlen immer noch.
Dieses nach wie vor sehr brüchige Bündnis, das sich in der Nachwahlzeit zunächst eher blamiert hat, weil man sich ewig nicht mal auf eine Führungsperson einigen konnte, um sie als Premierminister vorzuschlagen, es hat auch dies letztlich geschafft: Lucie Castets heisst die Frau, eine Spitzenbeamtin, Abgängerin der Elitehochschule ENA, die im Pariser Rathaus für die Finanzen zuständig und also keine Politikerin ist. Präsident Macron aber wischte diesen Vorschlag mit einer Handbewegung einfach vom Tisch.
Keine Auflösung der Blockade in Sicht
Seit diesem Freitag konsultiert der Präsident nun die Vorsitzenden der verschiedenen Parteien und Fraktionen, lässt sie im Élysée defilieren, so als hänge immer noch alles von ihm ab. Mitte oder Ende der beginnenden Woche wird Macron sich eventuell bequemen, das Orakel sprechen zu lassen. Dann muss die oder der Auserwählte aber erst mal eine Regierung zusammenstellen und auf die Suche nach einer Mehrheit gehen.
Doch wie diese Mehrheit aussehen könnte, steht nach wie vor in den Sternen. Drei etwa gleichstarke politische Gruppierungen (die Linke, Macrons Mitte-Rechts-Block und die extreme Rechte), denen jeweils zwischen 100 und 150 Sitze für eine Mehrheit fehlen, lassen nicht erkennen, wie in absehbarer Zeit eine Mehrheit zustande kommen könnte.
Diese Ungewissheit bringt das hochverschuldete Frankreich (die Schuldenquote liegt bei 112 Prozent des BIP) langsam, aber sicher auch auf den Finanzmärkten in eine missliche Lage. Darüber hinaus liegt Paris auch noch ein Brief von der Kommission aus Brüssel vor, die sich Sorgen macht über das «exzessive Defizit» Frankreichs und auf Antwort wartet.
Bis 1. Oktober muss ausserdem der Nationalversammlung ein Haushaltsentwurf für das kommende Jahr vorliegen. Kaum jemand kann sich jedoch vorstellen, wie das unter den derzeitigen Bedingungen mit einer Regierung, die nur die Alltagsgeschäfte erledigen kann, möglich sein soll.
Bei alldem müsste dem Hausherrn im Élysée-Palast im Grunde schon seit Wochen eines klar sein: Nach den Ergebnissen der Parlamentswahl ist Schluss mit dem Jupitertum und der Hyperpräsidentschaft. Auch wenn Präsident Macron so tut, als könne er trotz der Wahlschlappen weiterhin die Geschicke des Landes leiten wie bisher: De facto wird er sich in einer noch nicht näher umrissenen Kohabitation wiederfinden, wobei die Macht nach dem Ausgang der Parlamentswahlen bereits begonnen hat, sich aus dem Élysée in die Nationalversammlung zu verlagern. Dort spielt jetzt die Musik, auch wenn sie mangels klarer Mehrheiten nach der Sommepause reichlich verquer und schrill klingen wird.
Krise des politischen Systems
Viele wollen nicht ausschliessen, dass Frankreich äusserst turbulente Zeiten bevorstehen und die politische Instabilität zur Regel wird. Dass etwa durch das Fehlen jeder Koalitionskultur eine Regierung nach der anderen von ihren politischen Gegnern gekippt werden könnte.
Turbulenzen, die man laut Verfassung erst in einem knappen Jahr zumindest vorläufig beenden könnte. Erst dann nämlich könnte Präsident Macron das Parlament erneut auflösen. Doch mit welcher Hoffnung? Niemand kann heute glauben, dass einer der drei grossen politischen Blöcke dann eine absolute Mehrheit erzielen könnte.
Angesichts dessen meinen inzwischen immer mehr Kommentatoren, Frankreich habe es heute mit einer Regimekrise zu tun, ja mit einer Krise des Systems.
Und Emmanuel Macron muss sich sagen lassen, dass er den unangenehmen Eindruck erweckt hat, sein demokratisches Einmaleins vergessen zu haben. Denn letztlich, auch wenn er dem Buchstaben der Verfassung nach nicht dazu gezwungen ist, stand nach der verkorksten Parlamentswahl sein eigener Rücktritt durchaus im Raum.
Hätte er bei General De Gaulle nachgefragt, hätte er eine glasklare und gleich doppelte Antwort bekommen. 1969 hatte De Gaulle ein Referendum über die Abschaffung des Senats in Gang gesetzt. Am 27. September hatte er das Referendum verloren, am 28. September um null Uhr zehn war er zurückgetreten.
Davor, 1962, hatte er gegenüber seinem engen Vertrauten, Alain Peyrefitte, geäussert: «Sehen Sie, Peyrefitte, es gibt zwei Arten von Wahlen. Entweder sie werden zum normalen Zeitpunkt abgehalten. Da kann es passieren, dass die bisherige Parlamentsmehrheit unterliegt. Das heisst aber nicht, dass der Präsident nicht eine Lösung finden kann, um bis zum Ende seines Mandats im Amt zu bleiben. Oder aber die Wahlen folgen einer Auflösung des Parlaments. In dem Fall, wenn der Präsident vom Volk desavouiert wird, muss er, ob er es vorher angekündigt hat oder nicht, natürlich gehen. Wenn nicht, was würde er denn für eine Figur machen?»
Schüler Macron, setzen!