432 Abgeordnete des House of Commons votierten am Dienstagabend gegen das von Theresa May mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen. 202 stimmten dafür.
Das Ergebnis bedeutet eine saftige Niederlage für die Premierministerin. Eine Ablehnung des Deals war zwar erwartet worden, doch das Ausmass von Mays Niederlage übertrifft jede Prognose bei weitem. Noch nie in der Geschichte hat eine amtierende britische Regierung eine solch deutliche Niederlage erlitten. 118 konservative Abgeordnete stimmten mit der Opposition gegen die Premierministerin.
Kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses kündigte Labour-Chef Jeremy Corbyn an, er werde im Parlament die Vertrauensfrage stellen.
Am 23. Juni 2016 hatten 51,89 Prozent der Briten für einen Austritt aus der EU gestimmt. Die Engländer und Waliser votierten für den Austritt, die Schotten und die Nordiren für den Verbleib in der EU.
„Es ist meine Pflicht, das Ergebnis der Volksabstimmung durchzusetzen“, hatte Theresa May vor der Abstimmung gesagt.
Geschwächte Premierministerin
Sowohl viele EU-Befürworter als auch die harten EU-Gegner waren gegen das Abkommen. Für die EU-freundlichen Abgeordneten ging der Scheidungsvertrag zu weit; sie möchten eine engere Beziehung zur Europäischen Union aufrechterhalten. Anderseits befürchteten die Brexit-Hardliner, Grossbritannien werde wegen der Irland-Frage ewig an die EU gebunden bleiben.
Jetzt steht die weiter geschwächte Premierministerin unter Zeitdruck. Innerhalb von drei Tagen muss sie einen Plan B vorlegen. Wie der aussieht, wissen auch ihre engsten Mitarbeiter nicht. In den Medien und unter Politikern werden verschiedene Szenarien diskutiert.
Nachverhandlungen mit Brüssel?
Möglich ist, dass May unter Zeitdruck Nachverhandlungen mit Brüssel anstrebt. Sie hofft dann auf weitere Zugeständnisse aus Brüssel. Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, sagte, die EU wolle May „helfen“ – allerdings ohne nennenswerte Zugeständnisse zu machen. Laut einem Bericht der Boulevardzeitung „The Sun“ habe Angela Merkel ein weiteres Entgegenkommen in Aussicht gestellt. Die deutsche Bundesregierung dementiert das.
Sollten die EU-Staaten grünes Licht geben, könnte das Austrittsdatum verschoben werden. Das würde nach Ansicht der meisten Beobachter allerdings die Probleme kaum lösen.
Chaos?
Das schlechteste Szenario wäre wohl, dass Grossbritannien am 29. März ohne Abkommen austritt. Das Pfund würde abgewertet, die Preise würden steigen. Dann würde nicht nur an den Grenzübergängen das Chaos ausbrechen. Dem Land würden dramatische Versorgungsengpässe, zum Beispiel mit Nahrungsmitteln, Treibstoff und Medikamenten, drohen.
Schwacher Labour-Chef
Auch wenn Labour-Chef Corbyn jetzt die Vertrauensfrage stellt, ist ein Sturz der konservativen Regierung eher unwahrscheinlich. Die meisten konservativen Abgeordneten möchten mit Theresa May weitermachen.
Zudem spielt Corbyn ein riskantes Spiel, wenn er sich für Neuwahlen stark macht. Umfragen zeigen nämlich, dass die Konservativen die Neuwahlen mit etwa 40 Prozent gewinnen würden, obwohl die Partei tief gespalten ist. Labour schrumpft, Corbyn ist nicht populär. Nur noch 25 Prozent der Wählerinnen und Wähler unterstützen ihn; im November waren es noch 31 Prozent.
Ein zweites Referendum?
Nicht ausgeschlossen ist eine zweite Volksabstimmung über den Austritt, auch wenn die Brexit-Befürworter energisch dagegen kämpfen. Sie erklären, ein zweites Referendum wäre „verfassungswidrig“ und ein „verfassungsmässiger Skandal“. Laut Umfragen würden sich heute 52 Prozent der Briten für einen Verbleib in der EU aussprechen.
Pakt mit Labour?
Theoretisch möglich wäre auch, dass die Regierungschefin eine radikale Richtungsänderung ihrer Politik einschlägt und versucht, die Labour-Party ins Boot zu holen. Labour verlangt einen „weichen“ Brexit. Dabei wäre Grossbritannien Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum und würde in einer Zollunion mit der EU bleiben. May hatte sich bisher energisch gegen eine solche Lösung ausgesprochen. Nach ihrer Niederlage hat sich May für parteiübergreifende Gespräche (cross-party talks) ausgesprochen.
Auch die Lords sind dagegen
Der jetzt abgelehnte Vertrag sah vor, dass Grossbritannien der EU etwa 45 Milliarden Euro zahlt. Die Briten, die in der EU leben, erhielten wie bisher einen sicheren Rechtsstatus, ebenso die EU-Bürger, die in Grossbritannien leben. Die Grenze zwischen der Republik Irland, einem EU-Mitglied, und dem zu Grossbritannien gehörenden Nordirland würde offen bleiben. Wirtschaftlich und sicherheitspolitisch sah der Deal eine enge Partnerschaft zwischen der EU und dem Königreich vor.
Am Montagabend hatte sich schon das House of Lords, das EU-freundliche Oberhaus, gegen Theresa Mays Deal ausgesprochen. Das Abkommen gefährde die innere Sicherheit des Landes sowie den Wohlstand, erklärte eine überwältigende Mehrheit der Lords. Sie warnten auch vor den Gefahren eines Austritts ohne Deal. Der Entscheid des Oberhauses hat keinen Einfluss auf das weitere Ringen um eine Lösung.
(J21/hh)