Die Reaktion auf die Brexit-Abstimmung in Indien war zuerst und wie überall ungläubiges Staunen. Wie war es möglich, dass das älteste Parlament der Welt so leicht ausgehebelt werden konnte? Wie kommt es, fragte Lord Billimoria, dass die fünfundsiebzig Prozent Brexit-Gegner im Unterhaus (und achtzig Prozent der ähnlich gesinnten Lords) plötzlich nichts mehr dazu zu sagen hatten?
Ironische Frage
Billimoria ist Parse, und einer der vielen Inder, die im England der achtziger Jahre mit offenen Armen aufgenommen wurden, eine Biermarke kreierte – Cobra Beer – die so erfolgreich war, dass die Königin ihn zum Lord ernannte.
Die zweite indische Reaktion auf den Shocker war eine ironische Frage: „Halt mal – gab es da nicht schon einmal einen Brexit, vor vielen Jahren?“ Richtig, vor genau 69! Im Jahr 1947 zog Grossbritannien aus Indien ab. Damit begann sein Abschied vom Weltreich.
Old Brighty
Zugegeben, damals zogen die Briten nicht freiwillig von dannen, sondern nach einem „Ausschlussverfahren“, das 25 Jahre dauerte. Dank dem anglophilen Mahatma Gandhi blieb es weitgehend gewaltlos. Es erlaubte der Krone, mit fliegenden Fahnen aus dem Weltreich, in dem die Sonne nie untergegangen war, in die …untergehende Sonne zu segeln.
Dies war umso leichter, als die Welt des Nachkriegszeit es gut meinte mit Old Blighty, so der Kommentar von Lord Billimoria. Die USA gönnten ihm eine Special Relationship, liessen es zu einer Nuklearmacht aufsteigen. London erhielt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und konnte in den multilateralen Gremien – von der Nato über den IMF bis zur Weltbank – weit über seinem Einstandsgewicht boxen.
Extrawürste
Auch in der EU profitierte Grossbritannien vom Glanz seines Altherren-Status. Noch und noch konnte es für sich Sonderregelungen aushandeln. Billimoria: „We have been in the EU but not in the Euro; we have been in the EU but not in Schengen; we pour our beer in pints, because we choose to; and we measure our roads in miles, not kilometres, because we choose to“.
Vor vierzig Jahren noch der Sick Man of Europe, wurde Grossbritannien die zweitgrösste EU-Volkswirtschaft, erhält weltweit die zweithöchsten Auslandsinvestitionen, verzeichnet – trotz seiner 3 Millionen Ausländer – mit 5 Prozent Arbeitslosigkeit beinahe Vollbeschäftigung und kann eine der besten langfristigen Wachstumsraten im EU-Raum vorweisen.
Dies hat das frühere koloniale Mutterland auch für die Inder bisher attraktiv gemacht. Früher noch geprägt von der rassistischen Unterlegenheitsmentalität ihrer Unterdrücker, fühlen sich Inder in Grossbritannien so wohl wie nirgendwo sonst im Ausland. Rund 800 indische Firmen sind dort tätig, und ihre GB-Investitionen sind höher als in allen anderen 27 EU-Staaten zusammengenommen. Die Tata-Gruppe – Stahl, Tee, Luxusautos – ist heute der grösste private industrielle Arbeitgeber im Land.
Engstirnig und verantwortungslos
Für viele indische Firmen waren die Britischen Inseln bisher auch das Sprungbrett nach Europa. Sie fürchten nun, dass der Brexit daraus ein Trampolin macht. Es ist allerdings bemerkenswert, dass diese Furcht von vielen indischen Secondos in England nicht geteilt wird. Indische Zeitungen berichteten von vielen Leave-Sympathisanten unter den Exil-Indern. Die Erklärung: Weniger Migranten aus Europa bedeuten mehr offene Stellen für Jobsuchende aus dem Commonwealth. Zudem spielt wohl das Kalkül, dass ein wirtschaftlich geschwächtes Grossbritannien auf Länder wie China und Indien noch mehr angewiesen sein wird als bisher; es werde sich daher hüten, deren Migrationsquoten zu beschneiden.
Aber auch bei der indischstämmigen Minderheit gilt offenbar: Je höher Bildungsgrad und Einkommen, desto klarer die Ablehnung des Brexit. Lord Billimoria gehört zu diesen Remainers. Einen „engstirnigen und verantwortungslosen Entscheid“, nannte er ihn und zitierte Rabindranath Tagore‚ der die Gefahr erkannt hatte, dass „die Welt wegen kleinlichen Heimkriegen in Stücke zersplittern“ könnte.
Die Stunde Null
Dieser Satz stammt aus einem berühmten Gedicht des Literatur-Nobelpreisträgers, das dieser seinem Land 1947 mit auf den Weg gegeben hatte. Es preist den freigewählten Entscheid eines kooperativen Zusammengehens verschiedener Individuen und Ethnien. Tagore warnte dabei vor kleinlichen „Heimkriegen“, die das damals soeben zusammengeflickte Indien in einen Scherbenhaufen verwandeln könnten.
Mehrere Kommentatoren, darunter der Historiker Ramachandra Guha, verwiesen auf die damalige Parallelität in der Ausgangslage von Indien und Europa. Beide Subkontinente begannen praktisch bei Null. Im Fall Europas waren es die schweren politischen und ökonomischen Wunden des Kriegs; in Indien die ökonomische Ausblutung durch den Kolonialstaat, aber auch dessen fatale Politik, die gewaltigen ethnischen Differenzen Indiens zu fördern, um den imperialen Besitzanspruch zu bewahren.
Verschiedene Konzepte
Grossbritanniens Divide and Rule – und Spiel mit dem Feuer – gelang damals nur in einem Punkt. Die willentliche Vertiefung des religiösen Grabens gipfelte schliesslich in der blutigen Abtrennung und Schaffung von Pakistan. Im Übrigen jedoch gelang es Gandhi und Nehru, die zahlreichen ethnischen, sprachlichen, religiösen und sozialen Rissstellen zu kitten und das Land in eine stabile Demokratie zu führen.
Die unterschiedlichen Ausgangspositionen – Indiens Unabhängigkeitskampf, Europas grosser Krieg – liessen die beiden unterschiedliche Wege zu Frieden und Fortschritt einschlagen. Europa setzte auf den wirtschaftlichen Zusammenschluss, dem die politische Einigung folgen sollte. Indien setzte auf die politische Einheit, auf deren Basis die gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung wachsen würde.
Drohende Niederlage
Nun setzt der Brexit – sowie die damit heraufbeschworenen Gespenster mit ihren unsäglichen Namensschablonen Frexit, Grexit, Quitaly, Departugal u.ä. – den ambitiösen EU-Plan der wirtschaftlichen und politischen Verschmelzung in Frage. Einige indische Kommentatoren konnten es sich nicht verkneifen, dieser drohenden Niederlage den – angeblich erfolgreicheren – indischen Weg von der politischen Integration zur wirtschaftlichen Entwicklung entgegenzusetzen.
Ob diese Lesart zutrifft, sei dahingestellt. Zweifellos war die EU im Bereich der wirtschaftlichen Integration bisher (und trotz der jüngsten Rückschläge) erfolgreich, ebenso wie es Indien mit seiner politischen Demokratie ist. Aber beide scheinen vor ihrer jeweiligen nächsten Hürde zu straucheln. Die politische Vereinigung Europas rückt in die Ferne. Und dem demokratischen indischen Staat ist es bisher nicht gelungen, der grossen Mehrheit seiner Bürger ein Minimum an wirtschaftlicher Wohlfahrt zu garantieren.
Gefährliche Plebiszite
Und ist die politische Einheit wirklich so solide, wie es die meisten Inder immer beschwören? Aus allen Reaktionen ist der kalte Schauer herauszuhören, dass es einer simplen Volksbefragung gelingen konnte, das politische System eines Landes in Frage zu stellen und ein Jahrhundert-Projekt zu gefährden.
Was wäre, so die bange Frage, wenn in Indien ähnliche Referenden möglich wären? Wie viele Bundesstaaten würden sich wohl, fragte man seine Bürger, vom indischen Zentralstaat lossagen? Im Bundesstaat Delhi – identisch mit der Hauptstadt – plant dessen Chefminister Arvin Kejriwal ein Plebiszit. Delhi soll endlich ein voller Bundesstaat werden und nicht mehr am Gängelband der Zentralregierung hängen. Nach dem Brexit ist es nicht mehr wahrscheinlich, dass er dafür das grüne Licht bekommt. Man kann nie wissen. Indien ist (noch?) nicht die Schweiz.