Naiv, unseriös, selbstzerstörerisch - so beurteilten die Schweizer Medien das neue Programm der SP Schweiz, das weiterhin die „Überwindung des Kapitalismus“ anzielt. Kaum beachtet wurde, dass das gleiche Programm auch von links her in die Zange genommen wird. Zum Beispiel vom Basler Historiker Hans Schäppi. Das Nicht–SP–Mitglied befasst sicht mit der im Programm geforderten „Wirtschaftsdemokratie“, eben jener Vision, die es möglich machen soll, den Kapitalismus zu überwinden. Schäppi stellt nüchtern fest: Zur Zeit sei die Gesellschaft mit einer gegenläufigen Entwicklung konfrontiert. Anstatt wichtige gesellschaftliche Bereiche wie Universitäten, Schulen, öffentliche Verwaltung und Wohnen zu demokratisieren, würden sie Opfer einer Kommerzialisierung.
Die gesamte Gesellschaft sei sogenannten „Zwängen“ der Ökonomie unterworfen. In Wirklichkeit finde eine „Aushöhlung der Demokratie“ statt, meint Schäppi. Einen Höhepunkt des Demokratiezerfalls habe die Schweiz mit den „Rettungsmassnahmen“ der UBS erlebt, die „ohne demokratische Legitimation und ohne Widerstand durchgesetzt werden konnten.“
Massvolle Formulierungen
Auf diesem Hintergrund vermisst Schäppi im SP–Programm eine Antwort auf die entscheidende Frage: Wie kann die „Wirtschaftsdemokratie“ gegen den Widerstand des Kapitals durchgesetzt werden ? Der Kritiker vermutet: „Der Vision liegt sehr wohl die Erkenntnis zugrunde, dass sie im kapitalistischen System nicht vollständig realisiert werden kann und mit ihrer Verwirklichung der Kapitalismus nur teilweise überwunden werden könnte.“
In Wirklichkeit, so der Basler Historiker, seien die Ziele der SPS „soziale und ökologische Leitplanken der Marktwirtschaft“. Im Programm sei bezeichnenderweise nicht mehr von einem „demokratischen Sozialismus“ die Rede, die SPS stehe für eine „sozial-ökologische Marktwirtschaft“.
Unlösbare Konflikte
Wenn die SP wirklich ernsthaft von der „Überwindung des Kapitalismus“ überzeugt wäre, dann hätte sie in ihrem Programm neben der Wirtschaftsdemokratie noch andere Konflikte aufgreifen müssen, die aber im Rahmen des kapitalistischen Systems nicht lösbar seien. Schäppi verweist auf die Umweltzerstörung und meint: „Man musste nicht auf die Oelkatastrophe im Golf von Mexiko warten, um sich klarzumachen, dass in einer von verantwortungslosen und profitgierigen Konzernen beherrschten Welt die Idee eines grünen Kapitalismus frommes Wunschenken ist.“
Eine wirklich nachhaltige Entwicklung lasse sich nicht über Wachstum und neue Technologien durchsetzen. Dazu sei ein Bruch mit der Wachstumsideologie notwendig, „was nicht über den Markt und im Einverständnis mit den Kapitalbesitzern durchgesetzt werden kann, sondern wohl nur gegen sie.“
Die Kluft wird tiefer
Ein weiteres Problem, das im Rahmen des globalen Kapitalismus nicht lösbar sei, sieht Schäppi im Nord-Südkonflikt. Die aufstrebenden Länder wie China und Brasilien oder reichen Erdölstaaten überdeckten die Tatsache, dass die Kluft zwischen Reich und Arm im Weltmasstab ständig tiefer werde. Auch hier habe die Linke keine klare Gegenperspektive und müsse sich nicht wundern, „dass rechte, religiös-fundamentalistische Bewegungen an Boden gewinnen.“
Als schwächsten Teil des Programms empfindet Schäppi ausgerechnet die Analyse der gegenwärtigen Situation. Hier würden peinlichst alle Begriffe vermieden, mit denen die gegenwärtige Phase der kapitalistischen Entwicklung erst begreifbar würde. „So fehlt eine Analyse der Veränderung der Klassenverhältnisse, der Gründe für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien, der Rolle des US-Imperialismus, und, man hält es kaum für möglich, eine Analyse der Entwicklungen, welche zur aktuellen, weltweiten Finanuz- und Wirtschaftskrise geführt haben.“
Versteckspiel hinter der „Globalisierung“
Stattdessen verstecke sich das SPS-Programm hinter dem schillernden Begriff „Globalisierung“. Mit der Globalisierung könne heute alles gerechtfertigt werden: Betriebsschliessungen, Privatisierungen, Sozialabbau etc. Die Globalisierung werde wie ein „Sachzwang Weltmarkt“ behandelt und eingesetzt. Dabei sei sie in Wirklichkeit das Resultat politischer Entscheidungen wie der Liberalisierung des Aussenhandels, der Investitionen, des Kapitalverkehrs und der Liberalisierung der Finanzmärkte im Interesse ganz bestimmter Klassen. Diese hätten in den internationalen Organisationen wie der WTO, dem IWF und der Weltbank ihre besten Verbündeten. „Politische Entscheidungen,“ so gibt Schäppi zu bedenken,“können jedoch in Frage gestellt oder gar rückgängig gemacht werden.“
Ausgerechnet jene sozialen Bewegungen und anderen linken Kräfte, die den Widerstand gegen die bedrohlichen Entwicklungen organisieren, würden im SP Programm nicht erwähnt. Der SP Schweiz sei die Konsens- und Konkordanzpolitik mit den bürgerlichen Parteien wichtiger. Schäppis Fazit: „Die Konkordanzpolitik ist der tiefere Grund der Entpolitisierung der heutigen Gesellschaft und damit der schleichenden Aushöhlung der politischen Demokratie als auch des Abbaus sozialer Demokratie.“
„Protokoll einer Verunsicherung“
In der gleichen Nummer von „Widerspruch“ setzt sich Urs Marti, der an der Universität Zürich politische Philosophie lehrt, mit einer Publikation von Avenir Suisse auseinander. „Abschied von der Gerechtigkeit“ ist ihr Titel. Die Streitschrift der Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft wurde von der NZZ als „Manifest gegen den Neodirigismus“ gewürdigt.
Davon könne nicht die Rede sein, betont Marti. „Eher handelt es sich um ein Protokoll einer Verunsicherung“. So werde in der Schrift erstaunlicherweise beklagt, dass Wettbewerb und Kapitalismus es „noch schwerer haben werden, als sie es ohnehin schon hatten.“ Marti widerspricht: Das „Machtungleichgewicht zwischen rechenschaftspflichtigen politischen Institutionen und Finanzmärkten, die niemandem Rechenschaft schulden, hat nicht abgenommen.“ Aus der Finanzkrise seien kaum ernsthafte Konsequenzen gezogen worden. Mehr noch: „Wieder einmal hat der Verlust ökonomischer Sicherheit weltweit der Rechten mehr genützt als der Linken.“ Alternativen zum Kapitalismus blieben in der öffentlichen Debatte tabuisiert. Nur von der moralischen, bestenfall gesetzlichen Zähmung des Kapitalismus sei die Rede. Oder allenfalls von mehr Gerechtigkeit.
Wieviel Umverteilung muss sein ?
Marti fällt auf, dass die Verfasserinnen der Schrift (Katja Gentinetta und Karen Horn) den inflationären Gebrauch des Begriffs Gerechtigkeit beklagen, dann aber zu bedenken geben: Wenn alle über soziale Gerechtigkeit redeten, dürfe man diesen „politischen Kampfbegriff“ nicht als Schlagwort abtun, liege er doch „offenbar längerfristig im Trend.“
Ein Zeichen für die Unsicherheit der Autorinnen ist es für Marti, wenn sie sich fragen, „wie viel Umverteilung es denn sein muss, um den Ärmsten zu nützen, ohne den Reichen zu schaden.“
„Das Leiden der Neoliberalen an der Gerechtigkeit“, hat Marti seinen Kommentar betitelt. Er begnügt sich aber nicht damit, dieses Leiden bloss zu beschreiben, sondern er versucht, die Kriterien einer linken Gerechtigkeitskonzeption zu skizzieren. Es sei falsch, Gerechtigkeit einfach auf materielle Gleichheit oder „Gleichmacherei“ zu reduzieren. „Angestrebt wird nicht ein Zustand, worin alle gleich viel besitzen, sondern ein Zustand, worin alle aufgrund dessen, worüber sie verfügen, frei handeln und wählen können.“ Es gehe weder um Gleichheit noch um Gerechtigkeit, sondern um Freiheit und Selbstbestimmung.
Instrumentalisierung von Menschen
In den letzten Monaten wurden Millionen von Menschen als Arbeitslose Opfer der „schöpferischen Zerstörung“ des Kapitalismus. Dazu Marti: „Solche Prozesse werden gern im Namen künftigen Wohlstands gerechtfertigt; doch es widerspricht der modernen, individualistischen Auffassung, Menschen für kollektive Zwecke zu instrumentalisieren und ihre oekonomische Sicherheit der Verheissung künftigen Wohlstands zu opfern.“ Auf solche komplexe Zusammenhänge werde in der Avenir-Suisse Publikation auch nicht andeutungsweise eingegangen.
Zum Schluss erinnert Marti an die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte. Sie hätten „ohne soziale Ausgleichs- und Auffangmassnahmen zugunsten der Benachteiligten" nicht fortbestehen können. "Das Lamento über drückende Steuerlasten begleitet die Politik so unmissverständlich wie die Klage über die soziale Kälte – in beiden Fällen geht es schlicht um den Preis, der für die Erhaltung des Kapitalismus zu zahlen ist.“
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