In seinem Buch «Nationale Interessen» plädiert Klaus von Dohnanyi vehement für eine Annäherung Deutschlands an Russland. Der Überfall auf die Ukraine zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches war für ihn ein Schlag. Aber widerlegt dieser Krieg seine Argumentation?
Das Wort «Feindbild» trifft nicht ganz die Art und Weise, wie Dohnanyi die USA fokussiert. Aber es kommt dem sehr nahe. Die USA sind in den Augen von Dohnanyi in vielerlei Hinsicht beeindruckend, wir verdanken ihnen viel und stehen ihnen auch kulturell sehr nahe. Er sei seit 70 Jahren «ein enger Freund und Bewunderer der Vereinigten Staaten von Amerika». Diese Nähe aber darf nach Meinung Dohnanyis nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass die USA ein anderes Verhältnis zur Weltpolitik haben und andere Ziele haben als die Europäer.
Keine aggressiven Absichten
Denn die USA sind in erster Linie eine Grossmacht, ein Imperium. Sie verfolgen Grossmachtinteressen. «Wir Europäer sind Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses und waren niemals wirklich Verbündete, denn wir hatten nie ein Recht auf Mitsprache.» Ethische Werte, die für die Europäer im Zentrum der Politik stehen, sind für die USA nur von sekundärer Bedeutung und eher ein Instrument der Propaganda. Es gehe den USA nicht in erster Linie um eine friedliche und gerechte Welt, sondern sie wollen ihre Machtinteressen wahren. Sie wollen die «einzige Weltmacht» bleiben. Deswegen suchen sie die Konfrontation – jetzt besonders aktuell im Verhältnis zu China. Während die Europäer um Ausgleich bemüht sind, spitzen die USA Konflikte zu, um ihre militärische Macht zur Geltung zu bringen und ihre Dominanz zu behaupten.
Dies gilt natürlich auch im Verhältnis zu Russland. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hatten die USA in den Augen von Dohnanyi keinerlei Interesse an einem Aufbau vertrauensvoller und konstruktiver Beziehungen. Mit der Osterweiterung der Nato wollten sie Russland schwächen und klein halten, um sich den Rücken gegenüber China freizuhalten. In zahllosen Wiederholungen legt Dohnanyi dar, dass die USA ein Feindbild von Russland aufgebaut haben, das mit der Realität gar nichts zu tun habe, dafür aber die Russen in die Arme Chinas trieb.
Von Russland aus habe es in der Geschichte keine Aggressionen gegenüber Westeuropa gegeben, wohl aber umgekehrt, wie die Beispiele Napoleons und Hitlers belegen. Auch jetzt gebe es keinerlei Anzeichen für aggressive Absichten, wobei das Thema der – zwar völkerrechtswidrigen – Besetzung der Krim 2014 gesondert betrachtet werden müsse, denn die Krim habe kulturell engste Verbindungen zu Russland.
Eigensüchtige Grossmacht
Klaus von Dohnanyi hat zwar spürbar erschüttert eingestanden, dass Putins Überfall auf die Ukraine seine Einschätzungen in Frage gestellt haben. Damit ist das Thema aber nicht erledigt. Denn es könnte ja sein, dass Dohnanyi vieles sieht, was richtig ist, jetzt aber im Gefechtslärm untergeht. So kann die Diagnose, dass Amerika als Imperium andere Prioritäten als Europa setzt, durchaus richtig sein. Und es ist auch schon von vielen anderen Autoren beklagt worden, dass der Krieg gegen den Irak völkerrechtswidrig war und die vielen anderen Eingriffe in andere Länder im Zeichen des «Nation Building» beziehungsweise der Demokratisierung allesamt gescheitert sind.
Dohnanyi zeichnet Amerika als eine Grossmacht, die eigensüchtig überall dort, wo sich die Gelegenheit dazu bietet, unter dem Vorwand der Demokratisierung ihre politischen Vorstellungen durchsetzen will. Damit seien Billionen von Dollar verpulvert und grosses Leid verursacht worden. Mit ihrer Politik und ihren Rechtsauffassungen könnten die USA nicht einmal Mitglied der Europäischen Union werden.
Dabei übersieht Dohnanyi vollständig die Attraktivität der amerikanischen Kultur. Amerika ist mehr als McDonald’s und Coca Cola. Amerikanische Filme, die Pop-Kultur, die Literatur, die Mode: Dies alles hat weltweit auf Lebenseinstellungen eingewirkt, und auch die amerikanische Bürgerrechts- und Anti-Kriegsbewegungen sowie antiautoritäre Studentenproteste haben weltweit politische Stimmungen beeinflusst. Und das Konzept des Nation-Building sollte auch differenziert betrachtet werden. Immerhin hat es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hervorragend funktioniert. Und auch europäische Länder sowie zahllose NGOs weltweit haben sich diesem Ideal verschrieben. Die Vergeblichkeit dieser Bemühungen liegt nicht allein am bösen Uncle Sam.
Zweifel an der Selbstgerechtigkeit
Sehr ausführlich geht Klaus von Dohnanyi auf das Thema der Nato-Osterweiterung ein. Wieder und wieder führt er Quellen an, die belegen sollen, dass es eine Zusage des damaligen Aussenministers James Baker gegeben habe, dass sich die Nato nicht über Deutschland hinaus nach Osten erweitern würde. Und er zitiert mahnende Stimmen von William J. Burns bis George F. Kennan, die aus politischen Erwägungen heraus davor gewarnt haben.
Das alles ist nach wie vor bedenkenswert, aber Dohnanyi blendet bei seiner Kritik zwei Gesichtspunkte weitgehend aus: erstens die Frage, was die Völker Ostmitteleuropas von sich aus anstrebten, und zweitens die Entwicklung Russlands nach Gorbatschow und Jelzin im Zeichen von Korruption und autoritären Tendenzen. Man wundert sich bei einem derart erfahrenen Politiker wie Klaus von Dohnanyi, dass er den Handlungsdruck und die Dynamik der politischen Neuordnung so wenig beachtet. Wie hätten die Länder Ostmitteleuropas reagiert, wenn man sie zwar mit «Sicherheitsgarantien» ausgestattet, ihnen de facto aber die Rolle als Pufferstaaten zwischen Nato und Russland zugewiesen hätte? Ganz gewiss hätten sie sich als Europäer zweiter Klasse gesehen.
Es ist richtig, dass die USA und die Nato gegenüber Russland mit einer gehörigen Portion Arroganz aufgetreten sind. Aber ein Konzept, das auf Pufferstaaten hinausläuft, wäre als ebenso arrogant angesehen worden – in diesem Fall allerdings von den Ostmitteleuropäern. Das Misstrauen gegenüber den USA und der Nato verstellt Dohnanyi dafür den Blick und lässt ihn auf der anderen Seite die Verhandlungsbereitschaft Russlands überschätzen. Es wäre aber zu billig, sich mit der Feststellung zu begnügen, dass der Überfall auf die Ukraine die Intentionen Dohnanyis schlicht und einfach vom Tisch gefegt hat. So einfach ist es nicht. Seine Zweifel an der Selbstgerechtigkeit des Westens sind nach wie vor bedenkenswert.
Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. Siedler Verlag, München 2022, 240 Seiten, CHF 32.90.