Auf den ersten, sogar noch den zweiten Blick wirkt Wladimir Putins Forderung nach «Sicherheitsgarantien», die er an seiner Medienkonferenz vom Mittwoch formuliert hat, absurd. Aber man kann auch versuchen, einmal die Welt aus der Perspektive des Kremls zu betrachten. Auch persönliche Kränkungen können verhängnisvolle Folgen auf die grosse Politik haben.
Keinem anderen Staat, auch nicht der Nato, ist es in den Sinn gekommen, das Territorium Russlands anzugreifen. Russland anderseits intervenierte, wenn auch verdeckt, im Osten der Ukraine und annektierte 2014 die Krim.
Sechs Jahre vorher drangen russische Panzer kurzzeitig (als Reaktion auf den von Georgiens damaligem Präsidenten Saakaschwili lancierten Konflikt) auf das Territorium Georgiens vor. Und von Russland unterstützte Kräfte sind nach wie vor in den einst georgischen Regionen Abchasien und Südossetien.
So weit so schlimm.
Ein «Kipp-Moment» für Putin?
Ich bin kein so genannter Putin-Versteher – der Kreml-Herrscher manipuliert die Demokratie, unterdrückt freie Medien, ist zumindest indirekt mitverantwortlich für die Inhaftierung des Oppositionellen Nawalny und «schummelt» bei der Frage, inwieweit russische Instanzen im Konflikt in der Ost-Ukraine involviert sind. Aber ich halte den Versuch für sinnvoll, sich vorzustellen, einmal die Welt aus der Perspektive des Kremls zu betrachten.
Da kann man sich zunächst die Frage stellen: Gab es eine Zeit, in der Putin anders dachte und argumentierte als jetzt? Ich fragte das einmal Heidi Tagliavini, Ex-Botschafterin, Vermittlerin des so genannten Minsk-Friedensprozesses um die Ukraine, Autorin auch des EU-Berichts über den Konflikt Georgien-Russland um Süd-Ossetien. Sie sagte, sinngemäss: Den Kipp-Moment Putins kann man auf das Jahr 2007 zurückführen. Putin hielt eine Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz. Er skizzierte eine künftige Weltordnung, die nicht von einer grossen Macht geprägt würde, sondern vieldimensional oder multipolar sein würde.
In der ersten Publikums-Reihe sassen die US-Hardliner-Politiker Cheney und Rumsfeld – und die lachten, so schildert es Heidi Tagliavini, dem Redner Putin offen ins Gesicht. Das sei vielleicht der Moment gewesen, da Putin, gekränkt, sich von der westlichen Grossmacht, ja vom Westen insgesamt, innerlich verabschiedet habe.
Die Nato und die Ukraine
Dass Spitzenpolitiker bei ihren politischen Entscheidungen von persönlichen Kränkungen gesteuert sein können, wollen wir alle wohl nicht akzeptieren. Im Fall Putins aber lässt sich diese «Linie» weiterverfolgen – unter anderem im Fall der Ukraine. Da ereignete sich die Brüskierung Russlands bei der Veröffentlichung des danach berühmt-berüchtigt gewordenen Telefonats der US-Unterstaatssekretärin Victoria Nuland mit dem US-Botschafter Geoffrey Pyatt, in dessen Verlauf sie die ordinären Worte aussprach «fuck the EU». Das Telefonat stand im Zusammenhang mit der Frage, wie offensiv sich die USA für die Aufnahme der Ukraine in die Nato einsetzen sollten – und wie stark sie dabei Rücksicht zu nehmen hätten auf EU-Regierungen.
Wie auch immer, das Gespräch wurde in Moskau als Beweis aufgefasst, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ernsthafter in Betracht gezogen würde als offiziell zugestanden. Und folgerichtig löste das in russischen Gremien eine Diskussion darüber aus, ob man damit rechnen müsse, dass die russische Militärbasis Sewastopol auf der Krim bald einmal unter die Kontrolle der Nato gelangen könnte.
Washington kündigt Abrüstungsverträge
Gewiss, es waren nicht nur persönliche Kränkungen und Interpretationen von Telefonaten, welche zur Verhärtung der russischen Politik im Verhältnis zu westlichen Mächten führten. Die Eiszeit hatte sich schon Jahre früher angekündigt, vor allem beim Ausstieg der USA aus fast allen Verträgen zur Rüstungskontrolle. US-Präsident George W. Bush verliess 2002 den ABM-Vertrag (weil dieser Vertrag die USA hinderte, ein globales Netzwerk von Raketenstellungen zu installieren), und daraufhin erklärte Russland den bereits ratifizierten START-II-Vertrag für nichtig. 2019 kündigte Donald Trump den INF-Vertrag, und schliesslich lief auch noch der Open-Skies-Vertrag aus, der beiden Seiten einen, wenn auch sehr begrenzten Einblick in die Bewegung von Truppen und Ausrüstung erlaubt hatte.
Die westliche Seite, also die Nato oder koordiniert mit ihr die USA, konnte immer Gründe für den Ausstieg geltend machen – sie bestanden meistens im Vorwurf an die Adresse der Russen, neue Waffensysteme zu entwickeln oder sogar stationiert zu haben. In «normalen» Zeiten hätten beide Seiten wohl über solche Probleme miteinander konferiert, aber die Zeiten waren eben nicht mehr normal – weil beidseitig das Grundvertrauen fehlte.
Kränkungen und mangelnde Gesprächs-Mechanismen
Und jetzt, im Dezember 2021, in einem Moment der Krise, fehlen die «Mechanismen» der alten Verträge. Verblieben ist nur noch das so genannte New-Start-Abkommen, das die Zahl von atomaren Trägersystemen und Atomsprengköpfen nennt. Aber dieses Abkommen ist sozusagen leer, weil die beiden Seiten ja keinen normalen Gesprächsrahmen mehr haben. Das heisst, sie hätten ihn eigentlich schon, in der Form des Nato-Russland-Rates in Brüssel, aber die russische Regierung zeigt keine Lust, sich in diesem Rahmen wieder mit der Gegenseite zu treffen.
Und mit den verschiedenen Regierungen im Westen besteht derzeit auch nur wenig Kontakt-Normalität. Relativ am besten kam Putin noch mit Angela Merkel zurecht (wie sich das Verhältnis zur neuen deutschen Regierung entwickeln wird, ist nicht absehbar), halbwegs gut mit Frankreichs Macron, offenkundig schlecht mit Boris Johnson und noch schlechter mit dem US-Präsidenten – kein Wunder, nach der TV-Aussage Joe Bidens, er halte das russische Staatsoberhaupt für einen „killer“.
Womit wir wieder beim Anfangsthema gelandet wären, beim Persönlichen im gegenseitigen Umgang. Oder bei den verhängnisvollen Folgen, die persönliche Kränkungen auf die grosse Politik haben können.