Mit dem soeben im Alter von 94 Jahren Gestorbenen ist wieder einer (sogar einer der letzten) Zeitzeugen der verhängnisvollen, später aber auch wieder Hoffnung gebenden deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gegangen. Nicht nur, aber vor allem die SPD als die mit Abstand älteste Partei im Lande kann hier allein schon für die Nachkriegszeit eine beeindruckende Namensliste vorweisen – Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer, Gustav Heinemann. Johannes Rau, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Herbert Wehner und schliesslich Hans-Jochen Vogel. Viele (die meisten sogar) davon haben das Verbot der Partei miterlebt und die Verfolgung durch die Nazis, Flucht ins Ausland oder Folter in Gefängnissen und Konzentrationslagern, aber auch Neubeginn und Wiederauferstehung, Aufstieg bis sogar hinauf zur Regierungsübernahme.
Vogel wurde nicht müde, seine Mitbürger, in erster Linie jedoch seine Genossen, an die Vergangenheit zu erinnern. Er hasste das regelmässig in der Gesellschaft einsetzende Jammern, Barmen und Schimpfen, sobald auch nur Kleinigkeiten im öffentlichen Leben unrund zu laufen drohten. „Mein Gott, was haben wir doch für eine Geschichte“, sagte er immer und immer wieder. Vor allem, wenn bei den „Sozis“ (O-Ton Vogel) mal wieder politische Leistungen bekrittelt, kleingeschrieben und sinkende Umfragewerte von Selbstmitleid begleitet wurden. Diese alte und stolze Partei habe doch schon ganz andere Schläge überwunden: die Verfolgung im Zuge der bismarck’schen Sozialistengesetze, das Leiden und Leben im Untergrund während der Nazi-Zeit, die Zwangsvereinigung mit der kommunistischen KPD zur SED in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR. Vorgänge, die bei der inzwischen nachgewachsenen Genossenschaft weitgehend unbekannt sind oder ihr nebensächlich erscheinen.
Politik im Sinne von „Dienst und Dienen“
Politik, heisst es keineswegs allein an Stammtischen, sei ein „schmutziges Geschäft“. Wer allerdings Hans-Jochen Vogel erlebt hat, dem wäre ein solcher leichtfertiger Spruch nie über die Lippen gekommen. Für den 1926 im niedersächsischen Göttingen geborenen, aber in Bayern aufgewachsenen und dort sozialisierten Professorensohn (der – ebenfalls bayerische – Vater war Experte für Tierzucht) bedeuteten Politik und politische Führung Zeit seines Lebens Dienst und Dienen. Würde man als Messlatte für diese Polit-Maxime die Feststellung des Preussenkönigs Friedrichs II. „Ich bin der erste Diener meines Staates“ anlegen, so wäre es gewiss nicht übertrieben, den Bayern Vogel als preussischer denn die meisten Preussen zu bezeichnen. Jedenfalls was Charakterzüge wie Gradlinigkeit, Zuverlässigkeit, Treue oder (ja ganz altmodisch gesagt) Anstand betrifft. Es war denn auch kein Zufall, dass Vogel immer wieder einmal damit kokettierte, „altmodisch“ zu sein. Deswegen, möglicherweise aber auch vor dem Hintergrund seines Glaubens als überzeugter Katholik, begriff er Politik zuvorderst als Handeln unter moralischen Kategorien.
Die Familie Vogel bildete am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts ganz offensichtlich einen interessanten Nährboden für die spätere Karriere des damaligen Nachwuchses. Hans-Jochen, der Ältere von zwei Brüdern, musste noch in den Krieg, studierte danach Jura und promovierte mit „magna cum laude“, was ihm später den (oft hämisch gemeinten) Ruf eines „Einser-Juristen“ einbrachte. 1950, inzwischen Teil der bayerischen Justizverwaltung, trat er in die SPD ein. Sein um sechs Jahre jüngerer Bruder Bernhard hingegen engagierte sich bereits während seines Studiums in Heidelberg (u. a. Politische Wissenschaften und Geschichte) 1960 bei der CDU. Beide machten in der Politik Karriere.
Olympiade, U-Bahn und Krach mit den Linken
Beim Älteren deutete zunächst sogar vieles auf eine Blitz- und Bilderbuch-Laufbahn hin. Hans-Jochen Vogel wurde damals (wie ein aufmerksamer Beobachter in einem Nachruf schrieb) geradezu als „Stern des Südens“ gefeiert. Warum? 1960 war er in München mit 34 Jahren als Nachfolger des ausserordentlich beliebten Thomas Wimmer („O’zapft is!“) mit dem – aus heutiger Sicht – Traumergebnis von 64,3 Prozent zum jüngsten Oberbürgermeister einer europäischen Millionenstadt gewählt worden. Sechs Jahre später konnte er das Ergebnis sogar noch einmal steigern – auf 77,9 Prozent. Von dieser Zeit ist München noch heute geprägt. Vogel setzte den Bau der U-Bahn und die Erweiterung der S-Bahn durch. Eine zukunftsweisende Leistung, ohne die Bayerns Metropole längst im Verkehrschaos erstickt wäre. Und damit war Vogel ebenfalls entscheidend daran beteiligt, dass die Olympischen Spiele 1972 an die Isar vergeben wurden. Eine fraglos aussergewöhnliche Leistung.
Doch die Münchener Medaille hat nicht nur diese glänzende Seite. Damit ist nicht das fürchterliche Attentat eines palästinensischen Mordkommandos auf die israelische Mannschaft gemeint, dem insgesamt 17 Menschen zum Opfer fielen. Sondern der innenpolitische Kleinkrieg der Münchener Jungsozialisten gegen den seinerzeit noch als „rechts“ geltenden OB. Es war die Zeit der „68er“, der Anti-Vietnam-Demonstrationen. Einerseits zählte der Stadtoberste im allgemeinen Bewusstsein trotz seiner Jugend schon zu den „grossen“ Oberbürgermeistern. Andererseits sah er sich in der eigenen Partei immer mehr isoliert; tatsächlich schwenkte damals die Münchener SPD deutlich nach links. Die Folge: Auf dem Höhepunkt seines – trotz allem – hohen Ansehens kündigte Vogel 1971 an, bei den Kommunalwahlen im darauf folgenden Jahr nicht mehr anzutreten.
Vogel – der Parteisoldat
Personen, die (besonders schon in jungen Jahren) im Rampenlicht stehen oder sich von breiter Zustimmung getragen fühlen, neigen häufig dazu, die Bodenhaftung zu verlieren. Hans-Jochen Vogel stand nie in dieser Gefahr. Wollte man auf ihn einen Sammelbegriff anwenden, so böte sich am besten an: Parteisoldat. Der Ex-Oberbürgermeister erhielt nach der Bundestagswahl 1972 einen Ruf von Willy Brandt, der ihn mit der Führung des Bundesministeriums für Raumordnung und Städtebau beauftragte. Nach Brandts Rücktritt in der Folge der Guillaume-Spionage-Affäre „versetzte“ ihn Brandts Nachfolger, Helmut Schmidt, 1974 an die Spitze des Bonner Justizministerium. Hier wurde er – vor allem in den Jahren des Baader-Meinhof-Terrors – fraglos zu einer der wichtigsten sozialdemokratischen Säulen des sozialliberalen- Bundeskabinetts.
Erneut also eine astreine, von allgemeinem SPD-Wohlwollen getragene Politlaufbahn? Keineswegs. Ausgerechnet Herbert Wehner, der ebenso gefürchtete wie mächtige Zuchtmeister der SPD-Fraktion, hiess den Neuling aus München zunächst überhaupt nicht willkommen, sondern äusserte sich höchst ungnädig über das „weissblaue Arschloch“. Später freilich änderte sich das. Ja, der grimmige Wehner wurde von Vogel sogar als Vorbild bewundert; in Sonderheit wegen dessen unverbrüchlicher Parteitreue. Und wegen der Zähigkeit, mit der „Onkel Herbert“ nach innenpolitischen Skandalen und Krisen den SPD-Karren immer wieder aus dem Dreck zog. Wehner war ein „Parteisoldat“. Und als ein solcher verstand sich auch Hans-Jochen Vogel.
Bonn – Berlin – Bonn
Welcher vernünftige (also im Sinn von politisch rational denkende) Mensch hätte sich wohl selbst mit parteilichem Marschbefehl 1981 in das gleichermassen politisch verfilzte wie SPD-intern verfeindete (West-)Berlin begeben, um sich bei den dortigen Senatswahlen für das Amt des Regierenden Bürgermeisters zu bewerben? Hans-Jochen Vogel wusste um die geringen Chancen und stellte sich dennoch der Herausforderung. Natürlich unterlag er. Richard von Weizsäcker siegte, versprach den Berlinern, dies sei die Krönung seiner politischen Laufbahn – und stellte zugleich die Weichen in Richtung Bundespräsidialamt … Derweil zerbrach in Bonn im Herbst 1982 die sozialliberale Koalition von SPD und FDP, der Christdemokrat Helmut Kohl stürzte mithilfe eines Konstruktiven Misstrauensvotums den Sozialdemokraten Helmut Schmidt, es kam im folgenden Frühjahr zu vorgezogen Neuwahlen. Und wer wurde für die SPD als Spitzenkandidat ins Feuer geschickt? Klar, Hans-Jochen Vogel. Auch hier wusste er um seine geringen Aussichten. Natürlich unterlag er – und folgte daraufhin trotzdem wieder dem Ruf der Partei. Vogel wurde als Nachfolger Herbert Wehners Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.
Hans-Jochen Vogel hat sich nie geäussert, ob er gern Kanzler geworden wäre. Er gab sich auf jeden Fall mit der schweren Kärrner-Arbeit des Fraktionschefs und damit des Oppositionsführers zufrieden. Vogel war nie Liebling der Massen. Er hat solches auch nie angestrebt. Für ihn war „Führung“ wichtig. An der SPD-Spitze lösten sich die Kandidaten in immer kürzeren Abständen ab: Johannes Rau, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder … Es war alles andere als leicht, in solchen Zeiten die Fraktion und später auch noch die Partei zusammenzuhalten. Mehr noch, der gestrenge Vorsitzende hatte ein bis dahin nie gekanntes System für die Genossen Abgeordneten eingeführt: Die Fraktion wurde nach den Massstäben eines Regierungsapparats so organisiert, dass sie im Falle eines Scheiterns der Regierung praktisch sofort das Kommando hätte übernehmen können. Vogel nahm diese Aufgabe sehr ernst. Nicht wenige hatten seinerzeit über diese Form der „Regierung im Wartestand“ gelächelt. Andere, vor allem in den eigenen Reihen, aber bekamen die Ernsthaftigkeit ihres Chefs – nicht selten auch lautstark – zu spüren. Allerdings lernten sie auch Tugenden wie penible Genauigkeit, absolute Pünktlichkeit, Disziplin.
Wissen, wann es Zeit zum Abtreten ist
Diesen Mann zeichnete vieles aus. Nicht zuletzt auch Eigenschaften, die heutzutage als „altmodisch“ bezeichnet werden. Durch deren Verlust ist die Politik, sind inneres Engagement für den Staat, die Menschen, die Gesellschaft allerdings nicht besser oder überzeugender geworden. Hans Jochen Vogel wusste, wann es für ihn Zeit wurde, den Nachdrängenden Platz zu machen. 1991, nach seinem 65. Geburtstag, legte er Partei- und Fraktionsvorsitz nieder. Als Privatier verfolgte er natürlich weiter die Zeitläufte und das politische Geschehen. Und er litt am scheinbar unaufhaltsamen Niedergang seiner geliebten SPD. Lange Zeit schrieb er wöchentlich Briefe an das Erich-Ollenhauer-Haus. Mahnend, warnend, mit Vorschlägen. Ob sie Wirkung zeigen? Haben seine Mahnungen auf Parteitagen und bei Interviews Wirkung gezeigt? „Wir haben seit 1945 Frieden! Das kann man nicht genug würdigen“, versuchte er immer wieder ins Bewusstsein zu hämmern. Und: „Hört endlich auf mit der Jammerei. 80 Prozent der Menschen wären froh, in unserer Lage zu sein.“
Mit seiner Frau war Hans-Jochen Vogel schon vor ein paar Jahren in ein Münchener Seniorenheim gezogen. Sein politisches Fazit? „Ich bin dankbar für die Aufgaben, die mir gestellt wurden Führen heisst Dienen.“ Und: „Ich würde mich freuen, wenn es hiesse: ‚Man hat sich bemüht‘.“ Diese Worte, sagte er noch unlängst in einem Interview, könne er sich durchaus auch als Inschrift auf seinem Grabstein vorstellen.