Wenn Demokratie nur noch Fassade ist, wird sie weggeblasen. Weder wirtschaftliche Fortschritte noch ein pro-westliches säkulares Mäntelchen konnten verhindern, dass eine Studentenrevolte die Regierung vom Platz wischte.
Manchmal gibt es in unserem unersättlichen Konsum von Bildern eines, das sich der visuellen Flut entgegenstemmt, im Kopf festbrennt und zum Symbol wird. Für mich war es die Fotografie des bangalischen Studenten, der auf der Schulter der riesigen Bronzestatue von Sheikh Mujib-ur-Rahman stand. Er hämmerte auf den Hals des «Vaters der Nation», wohl um ihm den Kopf vom Rumpf zu hauen.
Es war im doppelten Sinn ein Vatermord. Sheikh Mujib war der Vater von Sheikh Hasina Wajed, der Regierungschefin von Bangladesch, die in diesem Augenblick auf der Flucht aus dem Land war, das sie seit 2008 ununterbrochen regiert hat. Es war aber auch ein symbolischer Vatermord, denn seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1971 wurde Mujib-ur-Rahman – zu Recht – als der Befreier und Gründer des Landes angesehen.
Der jüngste Volksaufstand, der Mujibs Tochter nun aus dem Amt gefegt hat, entzündete sich ausgerechnet an den Privilegien, die die Enkel der Befreiungskämpfer weiterhin erhalten sollten, wenn es um Studienplätze und staatliche Jobs ging. Ein halbes Jahrhundert nach diesen Ereignissen waren diese Privilegien für die dritte Generation nicht mehr als die Rekrutierung einer neuen Generation von Genossen der Awami-Liga, die unter Sheikh Hasina zu einer Partei mutiert war, welche die allein legitime Regierungspartei zu sein beanspruchte.
Politische Tradition der Gewalt
Es war allerdings nicht das erste Mal, dass der Vater der Nation von seinem Sockel stürzte. Bereits vier Jahre nach der Unabhängigkeit war Sheikh Mujib 1975 ermordet worden. Hinter der Fassade des Volkstribuns verbarg sich ein heissblütiger Ränkeschmied, der potenzielle Widersacher zu neutralisieren versuchte. Zu ihnen gehörte das Offizierscorps, das sich im Befreiungskrieg nicht sofort auf die Seite des Widerstands gestellt hatte, weil es von der (west-)pakistanischen Militärregierung neutralisiert worden war.
General Zia ur-Rahman war einer der Offiziere hinter dem Mord an Mujib gewesen. Nach seiner Machtübernahme gründete er die Bangladesh Nationalist Party (BNP) und organisierte Wahlen, um sich demokratisch zu legitimieren. Auch er wurde aus dem Weg geräumt – diesmal in einem Brudermord. Dahinter stand nämlich der spätere General Ershad, der mit der Gründung seiner eigenen Partei ebenfalls den Spagat mit der Demokratie versuchte.
Dieser Blutrausch unter Männern ebnete den Weg für die überlebenden Frauen. Sheikh Hasina war in Deutschland gewesen, als ihr Vater (und mit ihm fast die ganze Familie) ermordet wurde. Und die Witwe des Mujib-Mörders Zia, Begum Khaleda Zia, wurde nach dessen gewaltsamem Tod zur politischen Erbin. Die beiden Frauen, mit den Parteiapparaten von Awami-Liga und BNP im Rücken, wurden die bestimmenden politischen Führerinnen der letzten 35 Jahre.
Ihr gegenseitiger Hass stand dem des Vaters und des Ehemanns jedoch kaum nach. Sheikh Hasina nutzte den Nimbus des Nationalisten Mujib und Begum Zia die islamische Fassade des Generals. Letztere verbündete sich mit der Jamaat Islami, was Hasina Gelegenheit bot, ihre beiden Gegner zu beschuldigen, mit dem pakistanischen Staat unter einer Decke zu stecken. Sie selber nutzte ihre «säkulare» Grundhaltung für enge Beziehungen zum Westen und namentlich Indien, dem grossen Nachbarn, dessen Territorium Bangladesch von allen Seiten umschliesst.
Bangladesch unter Hasinas Regiment
Seit 2008 am Ruder, verschärfte Hasina mit zunehmendem Alter ihren autoritären Führungsstil. Sie überzog ihre Rivalin mit Prozessen, die ihr Gefängnis und Hausarrest einbrachten. Führende Jamaat-Politiker wurden der Kollaboration mit Pakistan beschuldigt und von einer willigen Justiz wegen Hochverrats gehängt. Hasina erkaufte sich diese Unterhöhlung der Demokratie mit einem liberalen Wirtschaftsprogramm. Es sollte im Innern Jobs schaffen und den Goodwill der westlichen Geldgeber sichern.
Beides gelang ihr vorerst sehr gut. Bangladesch eroberte sich hinter Vietnam den weltweit zweiten Rang als Hersteller von Billigtextilien. Das (Pro-Kopf-)Wirtschaftswachstum überholte jenes von Indien, und es liess dieses auch bei den Sozialindikatoren – Frauenförderung, Bildung, Gesundheit – hinter sich. Westliche Kommentatoren, die dafür vor allem die zahlreichen NGOs der Zivilgesellschaft verantwortlich machten, wurden von ihren Regierungen kaum angehört. Sheikh Hasina konnte es sich sogar leisten, den Friedensnobelpreisträger Mohammed Yunus mit zahlreichen Justizklagen kaltzustellen, weil sie in ihm einen möglichen politischen Rivalen sah.
Die Pandemie machte Hasina schliesslich einen Strich durch die Rechnung. Die Textilexporte brachen zeitweise ein. Die Branche reagierte mit Rationalisierungsprozessen in der Produktion, das Wachstum der Beschäftigung erlahmte, und dies just im Augenblick, als die Inflation eine zweistellige Höhe erreichte.
Die Regierung reagierte mit erhöhter Polizeirepression. Der Sicherheitsapparat war inzwischen zu einem politischen Instrument geworden. Die regierende Awami-Liga animierte Parteigenossen, sich in Gangs zu organisieren, mit Verbindungen zur berüchtigten RAB, dem Rapid Action Batallion, das mit militärischen Instrumenten ausgestattet wurde und weitgehend eigenmächtig operierte.
Die Regierungschefin setzte auf das RAB auch deshalb, weil das Trauma des Vatermords durch Militärs ihr ein tiefsitzendes Misstrauen gegen diese eingeimpft hatte. Sie hoffte, sich bei der Postenvergabe in der Generalität deren Unterstützung zu erkaufen. Dies ist ihr aber misslungen, wenn der Eindruck stimmt, dass es schliesslich die Armee war, die ihr die Unterstützung versagt hat, als der Volksaufstand in den letzten Wochen immer breitere Kreise zog.
Erfolgreicher Aufstand
Der Aufstand ist zweifellos eine Reaktion auf die ökonomische Krise, der die Regierung lediglich ihren brutalen Repressionsapparat entgegenwerfen konnte. Er wurde befeuert durch die in die Illegalität gezwungene politische Opposition. Diese fordert nicht nur die Einhaltung demokratischer Werte, sondern appelliert auch an nationalistische und religiöse Identitätsmuster. Dies gilt namentlich für das Verhältnis zum «Grossen Bruder» Indien. Die Unterdrückung der Muslime durch die Regierung Modi wurde von Sheikh Hasina kaum je in Frage gestellt. Im Gegenteil, es war Modi, der es sich leisten konnte, bei einem offiziellen Besuch von Bangladesch den Schutz der Hindu-Minderheit einzufordern.
War es ein Volksaufstand, der Hasina nun nach Indien verschlagen hat? Beim Betrachten der Bilder aus Dhaka wurde deutlich, dass namentlich die Jungen verzweifelt genug sind, um ins Gewehrfeuer der RAB hineinzulaufen. Allerdings konnte man auch feststellen, dass kaum junge Frauen unter ihnen waren.
Über die Gründe dafür lässt sich nur spekulieren. Gehen Frauen der blinden Gewaltanwendung instinktsicher öfter aus dem Weg als Männer? Oder könnte es sein, dass die Fortschritte, die das Land in den letzten Jahrzehnten vollbracht hat, weitgehend von den Frauen genutzt worden sind, etwa bei den Jobs in der Textilindustrie? Die jungen Männer blieben derweil, so ist zu befürchten, ihrem traditionellen Rollendenken verhaftet. Statusunsicherheit ist dann die Folge und damit die fatale Anziehungskraft von Gewalt – und Religion.