Das ukrainische Drama hält uns alle in Atem und stürzt uns in ein Wechselbad der Gefühle und Meinungen. Nach den tödlichen Heckenschüssen auf dem Maidan und der darauf folgenden Flucht von Präsident Janukowitsch aus Kiew herrschte im Westen zunächst weitherum Konsternation und dann Jubel. Inzwischen hat Putin im Gegenzug die Krim de facto besetzt. Von den westlichen Medien erschallt eine betäubende Kakophonie aus Katzenjammer, Empörung, Häme, Besserwisserei und Weltuntergangsgemurmel. Die Kreml-Sprachrohre haben auf chauvinistische Heim-ins-Reich-Propaganda geschaltet.
Einer, der sich von diesem Getöse nicht aus der Fassung bringen lässt, ist Henry Kissinger. Der Altmeister der Realpolitik kennt die zitierte Warnung Tocquvilles aus langer praktischer Erfahrung. In einem Beitrag in der „Washington Post“ zur ukrainischen Krise hat er sie zu folgendem Leitspruch umformuliert: „The test of policy is how it ends, not how it begins.“
Bei diesem Test sind sowohl Kiew als auch der Kreml, die EU und Washington schwer gefordert. Im Moment sieht Putin wie der Sieger aus – was die Krim betrifft. Aber wird er damit nicht die übrige Ukraine umso schneller in die EU-Arme treiben? Nein, so simpel funktioniert das nicht mit der Ukraine. Kiew wird dann das Land zusammenhalten und stabilisieren können, wenn die neue Regierung eine kluge Balancepolitik zwischen Brüssel und Moskau betreibt. Mit chauvinistischer Rhetorik und militärischen Muskelspielen gewinnt man längerfristig nicht den Kampf um Köpfe und Seelen der Bürger. Putin dürfte das noch zu spüren bekommen. Wo ist seine Softpower?