Zur Zeit der Breschnew-Herrschaft, als die sowjetische Supermacht noch existierte, schrieb der amerikanische Diplomat George F. Kennan (ein profunder Kenner und Kritiker des Sowjetimperiums) einmal einen ironischen Kommentar über westliche Russland-Bilder. Viele Leute glaubten offenbar, alle Russen seien mehr als zwei Meter hohe Riesen, die über unbezwingliche Bärenkräfte verfügten. Kennan lag damals richtig mit seiner Mahnung vor allzu simplen und überhöhten Projektionen bezüglich des Moskauer Machtpotenzials. Anderthalb Jahrzehnte nach Kennans Ruf nach mehr Augenmass und Differenzierung brach die Sowjetunion auseinander.
„Putin persönlich“
Diese Episode taucht in der Erinnerung auf, wenn man das immer unübersichtlicher anschwellende Mediengetöse über echte oder angebliche Einmischungen russischer Internet-Hacker in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf verfolgt. Inzwischen heisst es laut nicht näher definierten US-Geheimdienstquellen, man müsse annehmen, dass „Putin persönlich“ in diese Hacker-Aktionen involviert sei – was immer das heissen mag. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Grundsätzlich sind solche untergründigen Kabalen durchaus denkbar. Und es wäre naiv, dem ehemaligen KGB-Agenten Putin den Wink zu Unternehmungen dieser Art nicht zuzutrauen.
Doch solange der Öffentlichkeit keine eindeutigen Belege für solche Hackeroperationen vorgelegt werden, bleibt die Auseinandersetzung zu diesem Thema mehr oder weniger auf der Ebene von Behauptungen und Gegenbehauptungen. Die einen Kommentatoren äussern den Verdacht, Trump habe die Präsidentenwahl eigentlich nur dank russisch gehackter und von Wikileaks verbreiteter E-Mails gewonnen, und Trump persönlich tweetet, die US-Geheimdienstinformationen zu diesem Komplex seien „lächerlich“.
Händereiben im Kreml
So dreht sich die Geschichte endlos im Kreis. Für die keineswegs nebensächliche Frage, ob die möglichen russischen Hacker überhaupt vom Kreml gesteuert werden oder ob es sich um „wilde“ Akteure handelt, die auch in russische Bankensysteme eindringen, scheint sich überhaupt niemand zu interessieren.
Zu den paradoxen Folgen des Meinungsstreits um nebelhafte Fakten zählt nicht zuletzt der Umstand, dass Kremlchef Putin sich dabei die Hände reiben kann, weil er mit einiger Sicherheit zu den Nutzniessern dieser Geisterdebatte gehört. Darauf haben unlängst die beiden erfahrenen Russlandkennerinnen Anne Applebaum in der „Washington Post“ und Masha Gessen in der „New York Times“ hingewiesen. Putin, der im eigenen Land seit der handstreichartigen Krim-Annexion Popularitätswerte geniest, von denen westliche Staats- und Regierungschefs nur träumen können, wird durch Spekulationen über seinen angeblichen Einfluss auf die US-Präsidentschaftswahl in den Augen seiner vielen Bewunderer (in Ost und West) zweifellos noch mehr zum Übermenschen aufgewertet.
Wie hältst du's mit den Sanktionen?
Putin, so die unterschwellige Suggestion, braucht gewissermassen nur mit den Fingern zu schnippen – und schon fällt selbst die amerikanische Präsidentenwahl nach seinem Gusto aus. Dabei weiss kein Mensch mit Sicherheit, ob man im Kreml an einem Wahlsieg Trumps überhaupt ernsthaft interessiert war. Und noch viel weniger weiss man darüber, welchen Einfluss die möglichen russischen Hackereien auf das tatsächliche Wahlverhalten der amerikanischen Stimmbürger hatten.
Anstatt sich uferlos mit solchen kaum je überzeugend zu klärenden Fragen herumzuschlagen, wäre es sinnvoller, wenn sich die öffentliche Diskussion im Westen vermehrt jenen Problemen zuwenden würde, die im Verhältnis zu Putins Russland nach Trumps Amtseinsetzung konkret zur Entscheidung stehen. Weit vorne auf der Prioritätenliste figuriert die Frage, ob die USA weiterhin gewillt sind, die im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise verhängten Wirtschafts- und Personalsanktionen gegen Russland aufrechtzuerhalten, solange der von Moskau mit geschürte hybride Krieg in der Ostukraine andauert und der Status der Krim nicht völkerrechtlich akzeptabel geregelt ist.
Test für die atlantische Allianz
Trump hat im Wahlkampf durchblicken lassen, dass er diese Sanktionen nicht für besonders sinnvoll hält. Die EU hat unter der Führung von Bundeskanzlerin Merkel diese Sanktionen soeben um ein halbes Jahr verlängert. Sollte Trump als Herr im Weissen Haus das Gegenteil entscheiden, ohne Putin zu einem moralisch und politisch vertretbaren „Deal“ in der Ukraine-Frage zu bewegen, so würde er damit dem Kreml ein prächtiges Gala-Geschenk machen und gleichzeitig Angela Merkel und die Glaubwürdigkeit der atlantischen Allianz desavouieren.
Es muss nicht so weit kommen. Aber allein schon der Umstand, dass solche Perspektiven inzwischen denkbar erscheinen, sollte uns tiefer beschäftigen als das Stochern im Nebel über russische Hacker-Aktivitäten im US-Wahlkampf und deren unbeweisbare Folgen.