Lange Zeit schien es, als würden die italienischen Sozialdemokraten einem gesamteuropäischen Trend widerstehen. Jetzt hat es auch sie erwischt.
Bei den Europa-Wahlen im Mai 2014 erhielten die damals von Ministerpräsident Matteo Renzi geführten Sozialdemokraten 40,8 Prozent der Stimmen. Die neu auftretenden, postfaschistischen «Fratelli d’Italia» kamen auf 3,6 Prozent.
Laut einer jüngsten vom «Corriere della sera» veröffentlichten Umfrage kommen heute die Fratelli auf 31,7 Prozent. Tendenz steigend. Die Sozialdemokraten erzielen noch 16,3 Prozent. Tendenz fallend.
Keine Arbeiterpartei mehr
Der «Partito Democratico» (PD), wie die Sozialdemokraten in Italien heissen, ist auf den dritten Platz abgerutscht, hinter die Fratelli und die heterogene Protestpartei «Cinque Stelle».
Verheerend für die Sozialdemokraten ist die Erkenntnis, dass sie ihre einstige Stammwählerschaft verloren haben. Laut der Umfrage des Corriere della sera stimmen heute 39 Prozent der Arbeiter und Arbeiterinnen für die rechtsaussen stehenden Fratelli d’Italia. Und nur 9 Prozent geben ihre Stimme für die Sozialdemokraten ab.
Viele Linke befürchten ein Desaster
Es könnte alles noch schlimmer werden. Am 12. Februar finden in den italienischen Schlüsselregionen Lombardei (mit Mailand) und Lazio (mit Rom) Regionalwahlen statt. Sie gelten als erste wichtige Testwahlen für die Regierung von Giorgia Meloni – und als Barometer für die Sozialdemokraten. Viele Linke befürchten ein Desaster.
Vor allem auch deshalb, weil der PD ohne Kopf in die Wahlen geht. Der sozialdemokratische Parteipräsident Enrico Letta war nach der Wahlniederlage im vergangenen September zurückgetreten. Seither ist die Partei führungslos.
Primärwahlen Ende Februar
Wie kann man bei den anstehenden Regionalwahlen für eine Partei stimmen, wenn noch nicht einmal klar ist, wer diese Partei führen und welche Richtung sie einschlagen wird?
Eine neue Parteiführung soll erst nach den Wahlen in der Lombardei und Lazio bestimmt werden. Dazu sollen am 19. oder am 26. Februar Primärwahlen stattfinden. Noch ist unklar, welcher Parteiflügel, der linke oder der gemässigte, sich durchsetzen wird.
Online-Wahlen?
Umstritten ist zur Zeit, wie diese Wahl vonstatten gehen soll. Wahlberechtigt sind alle sozialdemokratischen Parteimitglieder und jene Italienerinnen und Italiener, die Sympathien für die Partei haben. Die einen verlangen, dass die Stimmen in Wahllokalen abgegeben werden müssen, eine klassische Wahl also. Doch das Risiko besteht, dass sich nur wenige an der Wahl beteiligen. Sollten weniger als eine halbe Million Wählerinnen und Wähler an der Primärwahl teilnehmen, wäre das eine Ohrfeige für die Partei.
Um eine solche zu vermeiden, plädieren einige dafür, dass parallel zur klassischen Wahl eine Online-Befragung stattfindet. So, heisst es, könnten mehrere Hunderttausend zusätzliche Wählerinnen und Wähler gewonnen werden. Andererseits wird befürchtet, dass eine Online-Wahl Betrügereien Tür und Tore öffnet. Am kommenden Mittwoch soll die Parteiführung darüber entscheiden.
Zur Wahl haben sich zwei Bewerberinnen und zwei Bewerber angemeldet:
- Die 37-jährige in Lugano aufgewachsene Elly Schlein, die dem linken Parteiflügel zugerechnet wird. Sie besitzt die schweizerische, italienische und amerikanische Staatsbürgerschaft. Ihr Handicap ist, dass sie oft die Partei gewechselt hat. Elly Schlein ist Jüdin und lesbisch. Vor allem Letzteres wird von ultrakonservativen Kreisen an die grosse Glocke gehängt.
- Der 56-jährige Stefano Bonaccini, Präsident der wichtigen Region Emilia-Romagna. Er gilt als gemässigt.
- Der 61-jährige Gianni Cuperlo, Mitglied der grossen italienischen Kammer. Er gehört zu den Gründern des PD und war schon einmal sozialdemokratischer Parteipräsident – bevor er sich mit Matteo Renzi überwarf.
- Die 49-jährige Paola De Micheli, Infrastrukturministerin im Kabinett von Giuseppe Conte.
Laut dem sozialdemokratischen Parteisekretariat ist das Rennen offen, auch wenn Bonaccini in internen Umfragen vorne liegt.
Jammertal
«Ob Bonaccini oder Schlein: Wer auch immer gewinnt», schreibt das linksliberale Magazin «L’Espresso» in seiner neuesten Ausgabe, «es könnte das Ende des PD bedeuten.»
Woran liegt es, dass die Sozialdemokraten im Jammertal schmachten?
Vor allem liegt es an der Parteiführung. Italien lechzt nach charismatischen Führungspersönlichkeiten. Solche, die sich mit imponierenden Auftritten in Szene setzen: Solche, die einfache Rezepte für alle Probleme anbieten. Berlusconi war ein Meister darin. Auch der Sozialdemokrat Matteo Renzi verdankte seinen damaligen Höhenflug seinem publikumswirksamen Auftreten.
Seriös, aber langweilig
Solche Leute fehlen den Sozialdemokraten seit Jahren. Enrico Letta, für den jetzt ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gesucht wird, ist ein seriöser, intelligenter, ruhiger Professor. Doch auf jeder Bühne und an Wahlveranstaltungen wirkte er hilflos. Mit solchen Leuten gewinnt man in Italien keine Wahlen.
Auch mit einem überladenen Parteiprogramm nicht. Anstatt sich auf wenige, wichtige Forderungen zu konzentrieren, die man griffig darstellt, präsentiert die Partei der Wählerschaft einen unendlich langen Katalog an Themen. Man verliert sich in einem Wust von Detailanalysen, und die Wählerinnen und Wähler wissen eigentlich nicht mehr, wofür die Partei steht.
Abspaltungen
Dazu kommen interne Hahnenkämpfe. Wer als Parteichef scheitert, gründet eben eine eigene Partei und spaltet sie von der Mutterpartei ab. Der Sozialdemokrat Matteo Renzi tat es und der Sozialdemokrat Carlo Calenda auch. Man verliert lieber Wahlen, als dass man sich zusammenrauft und sich einer anderen Parteiführung unterordnet.
Das Wichtigste für den Niedergang der Partei ist jedoch: Die Sozialdemokraten haben den Kontakt zu ihrer früheren Wählerschaft verloren. Wie anderswo sind sie zu einer «intellektuellen» Partei geworden. Ihr grösstes Potential liegt laut Umfragen in den Universitäten. Für die Nöte der Arbeiterschaft hat die einstige Arbeiterpartei viele nette Worte übrig – und sonst wenig.
Mit dem Notizblock auf der Strasse
Elly Schlein hatte recht, als sie kürzlich sagte, die Sozialdemokraten müssten wieder in der Gesellschaft verankert werden, müssten wieder Kontakt zur Basis pflegen und auf die Nöte der Menschen eingehen. «Wir müssen entdecken und verstehen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist», sagte sie.
Nur: Vieles deutet darauf hin, dass dies nicht so einfach sein wird. Schlein sagte, sie werde mit dem Notizbuch auf die Strasse gehen und die Leute befragen. Reicht das?
Fusion mit den Cinque Stelle?
Dazu kommt, dass die Sozialdemokraten mehr und mehr bedrängt werden von der Protestpartei Cinque Stelle, die versucht, im PD-Teich zu fischen.
Schon seit längerem gibt es innerhalb des PD und der Fünf Sterne Überlegungen, ob die beiden Parteien nicht fusionieren sollten. In der Lombardei arbeiten beide im Hinblick auf die Wahlen vom 12. Februar schon eng zusammen. Doch wer von beiden gäbe bei einer Fusion den Ton an? Die Sozialdemokraten als Juniorpartner? Das wäre wohl ihr Ende.
Schwarze Wolken hängen über der Partei, und wenn die Regionalwahlen für den PD in einem Debakel enden, könnten die Fliehkräfte innerhalb der Partei Aufwind erhalten. «Wir erleben schwere Zeiten», sagte Stefano Bonaccini kürzlich in Rom. «Aber wir können uns erholen.»
Die Hoffnung stirbt zuletzt.