„Brombeersommer“, der Nachkriegsroman von Dörthe Binkert, wird von dtv mit einer ungewöhnlich hohen Startauflage und mit einer Vorstellung des Buches im dtv-online-Magazin herausgebracht, wo man eine Leseprobe und den Kommentar der Autorin zu ihrem Buch als podcast herunterladen kann. „Brombeersommer“ ist auch als E-book zu haben. Kurz nach seinem Erscheinen steigen die Verkaufszahlen dieses Buches. Es ist zu dem Erfolg unterwegs, den man seiner leichtfüssig daherkommenden profunden Lebensbejahung wünscht.
Im Käfer in Richtung Süden
Vordergründig ist es eine Dreiecksgeschichte: Die lebenslustige Viola, der pragmatische Theo und der verträumte Karl feiern in Karls Mansarde die Silvesternacht. Das Jahr ist 1952, der Ort ein Städtchen im Ruhrgebiet. Die erstaunlicherweise aufgetriebene Sektflasche hängt zwecks Kühlung an einer Schnur aus dem Mansardenfenster, die von Viola mitgebrachte Gulaschsuppe wird aus dem vorhandenen Geschirr gegessen, nämlich zwei Tassen und einem Teller.
Sie feiern zu dritt, denn Edith, Karls Frau, die aus dem Osten hergeflüchtet ist, hat ihren nicht sehr lebenstüchtigen Mann zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen, und Karl wird vom Ehepaar Viola und Theo unter die Fittiche genommen. Theo findet eine gute Anstellung und überrascht Viola mit einem hellblauen VW-Käfer. Das Trio macht sich in Richtung Süden auf und fährt über den Gotthard. Sie bleiben in einem Rustico im Tessin hängen, wo sie ihre Ferien verbringen.
Die grossen deutschen Nachkriegsthemen
Karl und Viola kommen sich noch näher, als sie es schon sind, und Theo lässt es zu. Aus Gleichgültigkeit? Aus Freundschaft? Weil er ahnt, dass die Tage des kranken Karl gezählt sind? Dieser Roman gibt keine einfachen Antworten, sondern lässt in der Schwebe, was in der Schwebe bleiben muss.
Im Rahmen dieser Dreiecksgeschichte werden die wichtigen Nachkriegsthemen angesprochen: die Schuldfrage, der materielle Überlebenskampf, die Auswirkung der Kriegstraumatisierungen, der Umgang mit den unerwünschten Ostflüchtlingen, das Aufeinanderprallen von überlebensgestählten Frauen und besiegten Heimkehrern und die Regenerierung durch den Aufbruch der Jungen in eine neue Zeit.
Beinahe Mitleid mit dem alten Nazi
Diese grossen Themen werden ohne jedes Pathos dargestellt. Dörthe Binkerts Ohr für stimmige Dialoge und ihr sicheres psychologisches Gespür schaffen Szenen, die sich direkt unter die Haut schieben. Alles ist so alltäglich, dass der Leser gar nicht merkt, wie er unversehens mit Grundfragen konfrontiert wird. Das Buch lässt in seiner präzisen Plausibilität keine Distanzierung zu. Theos Vater, früher ein angesehener Mann mit guten Verbindungen, hat noch kaum begriffen, dass diese Verbindungen seinem Sohn jetzt mehr schaden als nützen.
Theo, ganz der Sohn seines Vaters, hat sich mit den neuen Umständen bereits bestens arrangiert. Der spröde Austausch zwischen Vater und Sohn dürfte in ähnlicher Form in zahlreichen deutschen Familien stattgefunden haben. Der alte Nazi tut einem beinahe leid, und dem Leser wird klar, wie selbstverständlich die Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Partei damals war. Sie zeigt nicht einmal mehr die Banalität des Bösen, sondern nur noch die schreckliche Banalität des Banalen, nämlich das angepasste Mitschwimmen im Strom des Mehrheitsfähigen mit dem Zweck, sich einen guten Platz zu sichern.
Uns Schweizern ist diese Charakterprobe erspart geblieben. Wer sich moralisch überlegen fühlt, hat keine Fantasie.
Kleinbürgerlicher Kodex für die gute Stube
Die subtile Darstellung einer schwer fassbaren Kriegstraumatisierung gelingt Dörthe Binkert in der Figur von Karl. Er hat den Krieg fürs Erste physisch überlebt, wenn er auch eine bedrohliche Nierenschädigung davonträgt. Aber sein Lebenswille ist geschwächt. Zwar kommt die Heirat mit Edith, die er als Soldat im Osten kennengelernt hat, noch zustande, aber sie steht unter keinem guten Stern. In den Jahren zwischen ihrer Verlobung im Osten und ihrer Heirat im Westen ist die Welt zusammengebrochen.
Wegen der Wohnungsnot muss das junge Paar bei Karls Tante leben, einer vergrämten Kriegswitwe, die sich mit diesem Arrangement vor einer Fremdeinquartierung schützt. Das Ehebett hinter einem aufgehängten Laken, das die Privatsphäre der beiden nur dürftig schützt, steht in der auch von der Tante bewohnten Küche, denn die gute Stube, so will es der kleinbürgerliche Kodex, darf nur bei hohem Besuch benutzt werden. Edith gehört zu den unbeliebten Ostflüchtlingen, mit denen die Einheimischen das Wenige teilen müssen, das sie noch haben. Sie ist die misstrauisch beäugte Fremde, die anders spricht und nicht einmal einen normalen Apfelkuchen hinkriegt.
Karl wird die alten Russland-Bilder nicht mehr los
Edith ist Karl nicht nur bildungs-, sondern auch vitalitätsmässig überlegen, möchte vorwärtskommen und treibt den geistesabwesenden Karl an. Er aber mag nicht recht. Er fühlt sich schuldig und will nicht weiterleben, als könnte man diese Schuld einfach hinter sich zurücklassen. Karl hat im Krieg in Russland Luftaufnahmen bearbeitet. Seine Auswertungen erlaubten der deutschen Wehrmacht, Partisanen aufzuspüren, und was mit ihnen geschah, war schlimm. Diese Bilder wird Karl nicht mehr los. Neben ihnen versinkt sein Nachkriegsleben im Nebel des Unwirklichen.
Dies alles hält er in sich verschlossen, gleich seiner Frau, die ihre Vergangenheit und ihre Flucht aus dem Osten vergessen möchte, um endlich leben zu können. Die Sprachlosigkeit zwischen den beiden führt schliesslich zur Trennung. Dörthe Binkert illustriert mit Jan, einer Parallelfigur zu Karl, die volle Wucht von mentalen Kriegsschädigungen. Jan kehrt nach langer russischer Gefangenschaft zu seiner Frau heim, ist aber nicht imstande, sich in den Alltag einzufügen. Der Begriff des Kriegstraumas existierte damals noch nicht und man stand dem Phänomen dieser Schädigungen hilflos gegenüber. Jan landet schliesslich in der psychiatrischen Anstalt. Karl besucht seinen alten Kameraden und findet ihn dort auf seinem Stuhl am Fenster sitzend. Jan schaut vor sich hin und reagiert kaum auf seinen Besucher....
Das Tessin als Paradies
Die deutsche Nachkriegszeit ist von der Hitlervergangenheit durchdrungen. Dennoch hat Dörthe Binkert ein auch heiteres Buch geschrieben. Das Leben geht weiter. Auf der Fahrt über den Gotthard lässt sich Karl auf dem Hintersitz von den bezaubernden Nackenhärchen Violas betören. Der von der verspielten Viola verwegen gekaufte Bikini, der, damals ungewohnt, ein verführerisches Stück Haut über dem Bauchnabel freigibt, wird im Lago Maggiore getauft. Das Tessin inspiriert die sensuelle Erzählkunst Dörthe Binkerts. Theo, Viola und Karl leben im Rustico vom Rauschen des Bergbachs, dem satten Grün der Pergola, der Sommerhitze, von Spaghetti, Käse, Wein, Luft und Liebe. In schwebend zeitlosem Einklang miteinander feiern sie zu dritt das Fest der Freundschaft.
Das Paradies vor dem Sündenfall. Und auch der Sündenfall ist keiner, sondern eine versöhnliche Notwendigkeit nach den Schrecken des Krieges, die wir dankbar zur Kenntnis nehmen. Die reifen Brombeeren, die Karl von Violas Haut aufleckt, zeugen vom Süssen im Dunkeln, vom überschäumenden Leben in Todesnähe.
Dörthe Binkert: Brombeersommer. München Juni 2012