Die private Sommerreise führte im Mietauto während eines knappen Monats von New York durch Pennsylvania, West Virginia und Kentucky, schnell durch Tennessee, dann wieder gemächlich durch North Carolina und South Carolina und von dort entlang der Ostküste nach Manhattan. Unspektakulär und dennoch eindrücklich. Mit Kleinstädten, weidenden Pferden und Kühen, Mais- und Weizenfeldern bis an den Horizont und Wäldern als Begleitern von morgens bis abends.
Gastfreundschaft
„Bed & Breakfast Inns“ bieten die schönste Übernachtungsmöglichkeit. Sie sind in herrschaftlichen Häusern, umgeben von gepflegten Gärten oder Parkanlagen, stilvoll eingerichtet. Gäste werden wie alte Freunde empfangen. Ihnen wird der Frühstückstisch erlesen gedeckt. In den grossen Zimmern und Aufenthaltsräumen antike Möbel, zierliche Kunstobjekte, wertvolle Bilder und bibliophile Bücher. Gestohlen werde nichts, sagen die über die Frage erstaunten Gastgeber. Angenehm die Rechnungen: sie belaufen sich auf einen Drittel dessen, was die gleiche Qualität in der Schweiz kosten würde.
Einfacher, aber auch komfortabel und blitzblank die eine prachtvolle Aussicht bietenden Lodges in den State Parks. Weil die geschützte Natur allen für die Erholung zugänglich sein soll, sind die Preise familiengünstig tief. Wer nicht im Restaurant einkehren, sondern sich selber verpflegen will, darf es ungeniert tun. Die Amerikaner tragen aus ihren Autos die Grillausrüstung und riesige, eisgekühlte Container mit Fressalien und Getränken auf ihre Zimmer, Balkone oder die Hotelwiese.
Fleischberge
Unübersehbar das Ergebnis. Beängstigend die Zahl der Dicksäcke jeden Alters. Enge Shorts, stoffarme Bikinis und schreiend bunte, aufgeknöpfte Hemden und Blusen verschlimmern das Bild. Grauslich die Allerwertesten, die beidseitig von den Sitzflächen hängen, die gewaltigen Busen über monströsen Bäuchen und die sich gerade noch mühsam vorwärts schleppenden Jugendlichen.
Plastikberge
Wo der Blick hinreicht: essende und trinkende Menschen. Kalorien- und Plastikbedarf verschlagen einem den Appetit. Plastikbecher, Plastikteller, Plastikbesteck, Plastikeimer, Plastikkrüge, Plastiktüten. Der Einweg-Plastik in sämtlichen Formen und Grössen wird in schwarze Einheits-Plastiksäcke gestopft, türmt sich nachts auf den Trottoirs zu imposanten Plastik-Gebirgsketten und wartet auf die Müllabfuhr.
Abfalltrennung? Kaum je gibt es eine Möglichkeit dazu. Die Essensportionen überfordern sogar Heisshungrige. Die Reste werden samt Plastik weggeworfen. Energie sparen? Rund um die Uhr brennen die Lichter in den Büros und Ladengeschäften. Die Klimaanlagen blasen eisige Kälte in die unbelegten Hotelzimmer, auch die Nachttischlampen leuchten.
Sorry
Beeindruckend die alltägliche Höflichkeit. Kaum ist jemand auch bloss sanft angestossen worden, folgt das „sorry“. Die langsameren Fussgänger weichen den schnelleren aus. Das Restaurantpersonal bedient lächelnd und rasch. Die Kinder quengeln nicht und tanzen nicht herum. Werden sie ein bisschen lauter, mahnen die Eltern sofort und bitten an den Nachbartischen um Entschuldigung. Hielten wir mit dem Auto auf dem offenen Lande kurz an, stoppte bestimmt ein Amerikaner und erkundigte sich, ob er Hilfe leisten könne.
„Where are you coming from?“ Die Antwort auf die häufigste Frage löste stets Freude aus: „Switzerland, how beautiful!“, „Switzerland is so marvellous!“, oder „I know, Switzerland is a paradise!“ Die Reaktionen schmeichelten. Oder könnte es sein, dass die höflichen Amerikaner jede Herkunftsnennung euphorisch kommentieren? Wir machten die Probe aufs Exempel und erklärten, „from Austria“ zu sein oder „from Germany“. In der Tat: das nämliche Lob.
Safety first
Die Amerikaner gelten als Safety-Weltmeister. Sie beschriften Feuerzeuge, Kaffeemaschinen und Benzinsäulen, Swimmingpool-Eingänge und Haarföne mit peinlichen Warnungen. Jede Putzequipe platziert gelbe Signalständer, auf dass der nasse Fussboden niemanden gefährde. Da müsste die Sicherheit in den Strassentunnels beispielhaft sein. Mitnichten. Weder ausreichende Beleuchtung noch Pannenstreifen, Not-Telefone und Notausgänge.
Mähvergnügen
Baum-, strauch- und blumenlose Rasenflächen rund um jedes Einfamilienhaus. Niemand spielt oder faulenzt auf dem eigenen Grün. Das Vergnügen besteht darin, auf dem Traktormäher herum zu flitzen und für den bodennahen Normschnitt zu sorgen. Der Naturrasen muss wie Kunstrasen aussehen.
Beruhigend
Nach den Krisen- und Schreckensmeldungen der grossen Medien beruhigen die lokalen und regionalen Zeitungen. Sie berichten liebevoll detailliert, rosarot und üppig bebildert über Geburten, Heiraten und Todesfälle, den renovierten Kindergarten, den Schulball, das Veteranentreffen, den neuen Vize-Sheriff, das Firmenjubiläum, den Jugendsporttag und liefern Ratschläge für Küche, Garten und Gesundheit.
Bequem
Die fast vier Wochen in Mid-Atlantic und Southeast bedeuteten auch, in unmittelbarer Nähe eines jeden Ziels sofort und ohne Zirkelkunst einen meist kostenlosen Parkplatz zu finden.
Klar doch
In den bereisten Bundesstaaten gibt es – klar doch – atemberaubende Landschaften, Schluchten und Höhlen, idyllische Orte, neben den Plastikbergen schöne richtige Berge, Kirchen und Kirchlein zu Tausenden, historische Schlachtfelder, Reichtum und Armut, erstklassige Rennställe, lohnende Museen, gefährliche Kohlebrände, lange und breite Meeresstrände, verlockenden Bourbon, zeitverrückte Siedlungen der Amischen, gigantische Industrieanlagen. Und eben den ganz gewöhnlichen, etwas anderen als den schweizerischen Alltag. Darum ging es hier subjektiv und stichwortartig.