Von den zehn Zeugen, die gegen Ramush Haradinaj aussagen sollten, war 2008 noch einer am Leben. Alle andern waren durch ungeklärte - man könnte auch sagen: allzu erklärbare – Gewalttaten ums Leben gekommen. Der letzte Zeuge zog seine Aussage zurück, nachdem er einen Mordanschlag knapp überlebt hatte.
Ramush Haradinaj, ehemaliger Kommandant der Kosovo-Befreiungsarmee UCK, wurde im Dezember 2008 vom Uno-Tribunal in Den Haag wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Die Straftaten, die ihm vorgeworfen wurden, lauteten unter anderem Folter, Mord, Vergewaltigung, Entführung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Serben, Roma und Kosovo-Albanern.
2010 entschied das Gericht, den Prozess wieder aufzunehmen. Im November 2012 wurde Haradinaj erneut wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Insider des Tribunals in Den Haag sprachen von einer Kapitulation der Justiz vor der Macht des organisierten Verbrechens.
Ramush Haradinaj war vom Dezember 2004 bis März 2005 Premierminister des Kosovo. Die multinationale Sicherheitstruppe Kosovo Force (Kfor) bezeichnete den Haradinaj-Clan in einem nicht veröffentlichten Bericht als „the most powerfull criminal organization“ des Kosovo (Weltwoche 43, 2005). Polizeiberichte verschiedener europäischer Länder sprechen von Heroinhandel, Autodiebstahl, Waffenschmuggel, Menschenhandel in grossem Stil.
Viele wussten es, niemand sagte es.
Im Kosovo-Krieg der Jahre 1998/1999 wurden die UCK–Einheiten in westlichen Medien als Freiheitskämpfer schlechthin gefeiert. In Nachrichten-Magazinen wie der Rundschau des Schweizer Fernsehens wurden Reportagen aus UCK-Lagern im albanischen Grenzgebiet gezeigt, wo die Befreiungskämpfer im Rambo-Outfit vor der Kamera posierten, hocheffiziente Propaganda-Videos ohne jede kritisches Distanz.
Was hinter den Fassaden lief, war vielen klar, nur schreiben wollte es niemand. Ein Zürcher Bezirksanwalt sagte mir damals, dass verschiedene Verfahren gegen kosovo-albanische Unternehmen in Zürich wegen Drogenhandel und Geldwäscherei liefen. Die Schweiz war die finanzielle Drehscheibe der Kriegslogistik der UCK, viele ihrer Kommandanten – wie der derzeitige Ministerpräsident Hashim Thaci - wohnten Jahre lang in der Schweiz. Hashim Thaci fühlte sich sicher. Er rühmte sich in Interviews seiner langjährigen Kontakte mit der amerikanischen Regierung. Wer es wissen wollte, hätte schnell herausfinden können, mit welchen Einkünften die UCK ihren Krieg finanzierte und wie viele Gangster in ihren Reihen marschierten. Nur war es damals nicht opportun, dies laut zu sagen.
Die Öffentlichkeit war von den Mainstream-Medien eingeschworen auf das Wahrnehmungsmuster, das die Balkankriege bestimmte: die Serben waren die Täter, alle andern zwangsläufig Opfer oder Freiheitskämpfer. Wer die Meinung vertrat, die Dinge seien etwas komplizierter, der wurde als Milosevic-Freund beschimpft oder gar bedroht.
„Kriegsverbrechen der Freiheitskämpfer“ titelt der Tages-Anzeiger letzten Mittwoch. Die USA und die Europäische Union wollen ehemalige hochrangige UCK-Kommandanten vor ein Sondergericht stellen. Viele von ihnen gehören heute zur Machtelite in Pristina. Sonderermittler John Clint Williamson, ein renommierter amerikanischer Jurist, legte letzten Dienstag seinen Bericht vor. Er hat genügend Beweismaterial beisammen, um die Kumpane von Hashim Thaci als Kriegsverbrecher anzuklagen. In seinem Rapport ist die Rede von ethnischen Säuberungen, Folter, Mord, Entführung, Vergewaltigungen und anderen Gräueltaten an Serben und Roma, aber auch an Kosovo-Albanern, die der „Zusammenarbeit mit dem Feind“ verdächtigt wurden.
Freiheitskämpfer in Libyen?
Was auffällt, ist die strukturelle Regelmässigkeit, mit der die grossen westlichen Medien Kriege an der Peripherie der Industriestaaten in ein simples Erklärungs-Muster zwingen. Kaum bricht ein bewaffneter Konflikt aus, schon werden die bewährten Figuren aus dem Puppentheater hevorgeholt: die Freiheitskämpfer (auch „Rebellen“ genannt) auf der einen Seite und der blutrünstige Diktator auf der anderen Seite. Die Einteilung in bad guys und good guys erfolgt dabei – wie man immer wieder feststellen muss - meist im Einklang mit der Interessenlage in Washington, London, Paris oder Berlin. In Peking oder Moskau wird es mit umgekehrten Vorzeichen ähnlich sein
Oft vergehen nur wenige Monate, bis sich herausstellt, dass die – an drittklassige Videospiele erinnernden - Erklärungsmuster gründlich daneben liegen. In Libyen waren es 2011 die jugendlichen Aufständischen, die sich Tag für Tag mit ihren Kalaschnikows und ihren Panzerfäusten vor den Kameras westlicher Sender als Kämpfer für Demokratie in Szene setzten durften. Welche Freiheit ist übrig geblieben von den Turnschuh tragenden Freiheits-Kämpfern des sogenannten arabischen Frühlings? Libyen ist heute auf dem besten Weg, ein zweites Somalia zu werden, ein gescheitertes Land, das keine staatliche Autorität mehr kennt, und das von rivalisierenden Milizen förmlich auseinander genommen wird.
Die Freiheitskämpfer halten nicht, was ihr Name verspricht, weder in Libyen noch in Syrien noch in Ägypten. Ich weiss nicht, in welchem Ausmass die neuen Medien als rasend schnelle Multiplikatoren von Informationen diese Unsicherheit und Unglaubwürdigkeit verstärken. Twitter, Facebook und Youtube haben zwar einerseits einen Raum für oppositionelle Stimmen geschaffen, doch werden diese Medien mehr und mehr von Regierungen und mächtigen Interessengruppen instrumentalisiert (vgl.Der Gazakrieg tobt auch im Internet, NZZ 2.8.2014) Das vergrössert eher die Verunsicherung der Millionen von News-Konsumenten.
Die Gewalt des Medienhypes
Sicher scheint mir nur, dass die neuen Medien dazu beitragen können, innert Minuten einen Medienhype zu erzeugen, der wie ein Tsunami um die Welt geht. Fernsehen, Radio und traditionelle Printmedien sind gezwungen, auf solche Wellen zu reagieren. Eine komplexe Analyse von Ereignissen ist bei dieser Schnelligkeit der Produktion von News unmöglich geworden.
Das Beunruhigende an der Sache sind nicht die Irrtümer schnell schreibender Journalisten. Wir alle können Fehler machen in unseren Einschätzungen. Das Beunruhigende ist die Gewalt, mit der sich die jeweilige Mainstream Opinion ihren Weg bahnt. Wer sich der Welle entgegenstemmt, wird beschimpft und muss mit Sanktionen rechnen, in schweren Fällen mit Schreibverbot oder dem Verlust des Arbeitsplatzes. „Einen solchen Schmutzfink müsste man aus der Schweiz ausweisen“, so höre ich noch die Kommentare von gestandenen Fernsehredaktoren, als im Bosnien-Krieg die Rede auf einen der wenigen Journalisten kam, die es wagten, eine differenzierte Analyse zu fordern.
Am 5. Oktober 2011 versuchte ich im journal21 darzulegen, dass die NATO-Bombardierungen in Libyen meines Erachtens nichts anderes waren als ein unüberlegter und folgenschwerer Eingriff in einen Bürgerkrieg zu Gunsten der Stämme in Ost-Libyen. Eine Intervention, die mehr motiviert war durch geostrategische Überlegungen als durch die Sorge um Demokratie. Meine Prognose lautete damals:
„Nun wird seit mehr als sechs Monaten bombardiert, und der Krieg ist noch nicht zu Ende. Was wird das Ergebnis sein? Libyen ist nach wie vor ein von Stammesstrukturen charakterisiertes Land. Ob die Stämme und Regionen in der Lage sein werden, sich auf demokratische Machtteilung zu einigen, ist ungewiss. Innere Konflikte zeichnen sich ab. Libyen kann sie möglicherweise nicht bewältigen. Ein fortdauernder Bürgerkrieg oder ein auf niedriger Stufe schwelenden Konflikt könnte die Folge sein.“
Eine Prognose, die im Hinblick auf die heutige Situation in Libyen beinahe noch zu optimistisch war. Doch es war eine Prognose, die quer stand zu der Euphorie, mit der die Medien den libyschen Frühling feierten. Entsprechend wütend waren die Reaktionen. Ich erhielt persönliche Mails von mir unbekannten Leuten, die mich fragten, ob ich auf der Gehaltsliste von Gaddafi stünde (er war zu diesem Zeitpunkt noch am Leben). Ein Kommentarschreiber, der seinen Namen nicht nennen wollte, sah mich als Mitglied einer „linksextremen Sekte“, als Sprecher der „Castro-Diktatur in Kuba“ und befand: „Ideologen wie Scheben werden sich nie ändern, die Welt ist für sie in den Zeiten des Vietnam-Krieges stehen geblieben.“
Freiheitskämpfer in Syrien?
Wenn man den Quellen der gewöhnlich gut unterrichteten NYT glauben darf, wurden die reichhaltigen Waffenarsenale Gaddafis in der Folge vom amerikanischen CIA nutzbringend zur Befeuerung des nächsten Krieges gebraucht. (vgl. „Gestern Rebellen, heute Terroristen“ journal21, 15. 6.2014) Von Benghasi wurden Waffen an die Aufständischen in Syrien geliefert. Dort wiederholte sich das bekannte Setting: Die „Rebellen“ kämpften gegen den „Diktator“, ein weiterer arabischer Frühling war in Sichtweite. Unsere Tageschauen waren voll von heldenhaften Darstellungen der turnusmässigen Freiheitskämpfer. Dok-Filme wurden gedreht über ihren heroischen Kampf. Doch der Medien-Hype war wieder von kurzer Dauer.
Aus den Rebellen sind nun – in der plötzlich veränderten Wahrnehmung westlicher Medien – bösartige Fundamentalisten geworden, die einen islamischen Staat im Nahen Osten ausrufen und die gesamte Region bedrohen.
Kommunizierende Röhren
Die Notwendigkeit der Massenmedien, klare Kontraste zu zeigen, wo oft wenig Klares erkennbar ist, kommt offensichtlich einem Bedürfnis ihrer Klientel entgegen. Es ist das Bedürfnis nach klaren Verhältnissen. In einer Welt, die täglich undurchsichtiger und komplizierter wird, ist das Verlangen nach griffigen Erklärungen und moralischen Wegweisern gross. Der ehemalige Greenpeace-Manager Thilo Bode brachte es einmal in einem Interview auf die drastische Formel: „Die Leute brauchen Helden, die Leute brauchen aber auch Arschlöcher.“
Gibt es ein intensiveres soziales Wohlgefühl als einzustimmen in den Chor der Millionen, die Freiheitskämpfern applaudieren? Und gibt es ein stärkeres Gefühl gesellschaftlicher Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit als solidarisch auf einen Diktator draufzuhauen, wenn er als solcher definiert ist. Die Neigung der Massen-Medien zur Simplifizierung und die Empörungsbereitschaft der Massen ergänzen sich wie ein System kommunizierender Röhren. Der jeweilige Medienhype ist Resultat dieser Faktoren.
Da sind dann all diejenigen ein Ärgernis, die zu bedenken geben, dass die Welt nicht immer schwarz-weiss ist, sondern viele Grautöne aufweisen kann. Anders gesagt: Aufklärung ist Ärgernis. Wer die Welt erhellt, macht auch ihren Dreck deutlich. Oder, um es mit einem Vers von Wolf Biermann zu sagen: Nicht zu hoch hinaus, sagt der Vogel Strauss.