Die Regierungsseite behauptet, es werde ein demokratisches System sein. Die Opposition befürchtet eine präsidiale Diktatur. Ausser Frage steht, dass der Revisionsprozess auf den Wunsch Erdogans hin in Bewegung gesetzt wurde und dass er – wenn die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen legal werden – seine politische Position sehr stark ausbauen und festigen wird.
Mehr Macht für Erdogan als für Atatürk
Nicht einmal Atatürk, der siegreiche General und spätere Gründer der modernen Türkei, hat gleich weitgehende Privilegien für sich als Präsident der Türkei besessen, wie sie Erdogan nun für sich anstrebt. So unterstreicht es die grösste türkische Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP).
Der gegenwärtige türkische Ministerpräsident Benali Yildirim, der der Partei Erdogans angehört, behauptet öffentlich, die vorgesehene Verfassungsänderung enthalte „checks and balances“, Kontrollen und Gegengewichte, die eine Allmacht des vorgesehenen Präsidentenamtes verhinderten. „Alle fünf Jahre“, so erklärte er öffentlich, „wird das Volk darüber abstimmen, ob der Präsident weiter im Amt bleiben soll oder nicht. Was kann man mehr an 'checks and balances' verlangen!“
Der Ministerpräsident verfehlte auch nicht zu behaupten, dass die „internationalen Feinde der Türkei“ von den gegenwärtigen, angeblich schwachen, politischen Strukturen des Landes Gebrauch machten, um die Türkei zu schädigen.
Der Ruf nach dem Starken Mann
Auf der Regierungsseite wird auch argumentiert, eine starke entschlossene Führung sei notwendig für die Türkei, um ihre Prosperität und Sicherheit zu gewährleisten. Der Ministerpräsident geht so weit zu erklären, sein eigenes Amt sei unnötig. Denn zurzeit bestehe eine Doppelbesetzung der politischen Führung: einerseits durch Präsident Erdogan und andrerseits durch den Ministerpräsidenten, dem unter der bisher geltenden Verfassung eigentlich die Führung der türkischen Regierung zusteht.
Keine Gewaltentrennung
Der Revisionsvorschlag sieht in der Tat vor, dass das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft werde, weil der Exekutive Präsident die Minister ernennen und seiner Regierung vorstehen wird. Den Argumenten der Regierung und der Mehrheitspartei Erdogans hat der ehemalige – aber nun pensionierte – Vorsitzende des Obersten Gerichtes, Sami Selçuk, entgegnet, ein präsidiales Regierungssystem ohne Gewaltentrennung sei undemokratisch und der Revisionsvorschlag werde eine Verfassung ohne Gewaltentrennung hervorbringen. Der ehemalige Oberrichter forderte die Juristen der Türkei auf, sich zum Wort zu melden und nicht stillzuschweigen. Eine demokratische Verfassung ohne Gewaltentrennung, so sagte er, sei „lächerlich und gefährlich“.
Er führte nicht aus, was er damit ansprach, und für die grosse Masse der Türken ist dies ein dermassen abstraktes Argument, dass sie schwerlich verstehen werden, was das Fehlen der Gewaltentrennung bedeutet.
Die Presse am Gängelband
Eine Presse, die der Bevölkerung die Bedeutung der richterlichen Aussage erklären könnte, gibt es nicht mehr. Erdogan hat im Zuge der gegenwärtigen „Säuberungen“ und mit Hilfe des kürzlich neu verlängerten Ausnahmezustandes 90 Prozent der Oppositionsstimmen ausgeschaltet, indem er die Oppositionsblätter und elektronischen Media in pro-Regierungsorgane umwandelte.
Die CHP versucht gegenwärtig, eine eigene Radiostation aufzuziehen, um über die Vorgänge im Parlament zu berichten. Bisher hat nur die Nationale Radiostation, die der Regierung untersteht, ihre Version der parlamentarischen Diskussionen verbreitet.
Keine unabhängigen Gerichte
Mit der fehlenden Gewaltentrennung hat es die folgende Bewandtnis. Die richterliche Unabhängigkeit wird gemäss dem Vorschlag dadurch in Frage gestellt, dass der Präsident die Hälfte der Hohen Richterlichen Kommission (bisher hiess sie die „Souveraine Richterliche Kommission“, doch der Name soll nun geändert werden) und deren Vorsitzenden ernennt. Dieses Gremium soll über sämtliche Belange der Gerichte und Staatsanwälte entscheiden, einschliesslich Einstellungen und Entlassungen der Inhaber der führenden Positionen. Dazu kommt noch, dass der Präsident 12 der 15 Richter des Verfassungsgerichtes ernennen wird.
Ein abhängiges Parlament
Die politische Unabhängigkeit der Parlamentsabgeordneten ist dadurch kompromittiert, dass der Präsident nicht nur Leiter des Staates sein wird, sondern auch Vorsitzender seiner Partei, deren Kandidaten für Wahlen er als Parteivorsitzender für einen jeden Wahlkreis ernennt. Die Legislative wird dadurch an die Exekutive gebunden.
Keine Chancen für Meinungsfreiheit
Wie es um die sogenannte „vierte Gewalt“, jene der Information, zurzeit steht, wurde bereits erwähnt. Die Zukunft dieser „vierten Gewalt“ wird unter der geplanten Verfassung auch weiterhin fragwürdig bleiben. Sie wird beispielsweise davon abhängen, ob die geplante, vom exekutiven Präsidenten abhängige Gerichtsbarkeit die Gedankenfreiheit verteidigen wird, wenn es darum geht, berechtigte Kritik an der Exekutive und ihrem Oberhaupt, dem Staatspräsidenten, von angeblicher Beleidigung dieses Staatspräsidenten zu unterscheiden. Paragraphen, die seine Beleidigung schwer bestrafen, gibt es bereits in der türkischen Gesetzgebung.
Alle Machtfülle für den Präsidenten
Über die in der vorgesehenen Verfassung drohende weitgehende Aufhebung der Gewaltentrennung zu Gunsten eines allmächtigen Präsidenten hinaus sind weitere Vollmachten für den Exekutivpräsidenten vorgesehen. Er wird den Chef der Geheimdienste ernennen und diese sind einzig ihm gegenüber verantwortlich. Dass auch das Parlament oder die Gerichtsbarkeit dabei etwas zu sagen hätte, ist ausdrücklich ausgeschlossen, weil geplant ist, dass es keinerlei Interventionen durch staatliche oder legale Stellen in die Gebiete geben darf, die dem Staatspräsidenten unterstehen.
Was bedeutet, dass weder die Richter noch die Parlamentarier eingreifen werden können, wenn die Geheimdienste tun, was sie wollen, so lange nur dieses Tun dem Willen des Präsidenten entspricht.
Der Präsident wird Immunität geniessen. Er kann nur vor Gericht gezogen oder zum Abdanken gezwungen werden, wenn eine Mehrheit von 400 der neu vorgesehenen 600 Abgeordneten dies fordert. Da der Präsident aber auch per definitionem Vorsitzender seiner Partei sein wird, und weil dies die Mehrheitspartei im Parlament sein wird, wird eine Infragestellung des Präsidenten nur möglich sein, wenn seine eigene Partei gegen ihn rebelliert.
Erdogan Präsident für die nächsten 15 Jahre?
Der Präsident kann, nach den gegenwärtigen Vorschlägen, drei Fünfjahresmandate hintereinander ausüben, wenn er gewählt wird. Dabei zählen die 15 Jahre nicht mit, die Erdogan bisher, zuerst als Regierungschef, dann als Präsident, im Amt war. Wenn seine Wahl zum Präsidenten nach der neuen Verfassung im Jahr 2019 wie vorgesehen erfolgen wird, kann er zweimal wiedergewählt werden und bis 2035 im Amt bleiben. Er wird dann 81 Jahre alt sein.
Weiter erhält der Präsident die Vollmacht, alle hohen Staatsdiener zu ernennen, darunter die Botschafter und die Vorsitzenden der Universitäten. Er kann das Parlament auflösen und seine Gesetze zulassen oder ablehnen. Er „bestimmt“ das Budget.
Plebiszit im Frühjahr?
Die gegenwärtig debattierte Verfassungsänderung, die all diese Regeln in die Verfassung einbauen soll, umfasst 18 Paragraphen. Sie wurden in ihrer Gesamtheit bereits angenommen, werden nun im Einzelnen diskutiert und zur Abstimmung gebracht, nach einem doppelten Durchgang und Zustimmung von mindestens 340 Abgeordneten von total 550 wird der Vorschlag dem Volk zum Plebiszit vorgelegt und – wenn angenommen – Verfassung werden.
Ziel der Regierungspartei ist es, den Vorschlag im Frühling, vielleicht schon im April, dem Volk vorzulegen. Zu diesem Zweck greift das Parlament zu besonders intensiver Tätigkeit, es gibt sogar Nachtsitzungen, um das Vorgehen zu beschleunigen. Der kürzlich verlängerte Ausnahmezustand wird am 19. April zu Ende gehen. Das Plebiszit kann schwerlich durchgeführt werden, bevor er aufgehoben ist.
Pakt mit den Nationalisten
Um ihre Ziele zu erreichen, hat die regierende AKP einen Pakt mit der ultra-nationalistischen Nationalen Aktionspartei (türkische Abkürzung MHP) abgeschlossen. Die Annahme der Verfassungsänderungen benötigt die Zustimmung von 340 Abgeordneten und jene des Volkes.
Die Regierungspartei Erdogans (AKP) verfügt über 317 Abgeordente, die MHP über 38. Die Abstimmungen ergaben bisher die nötigen Mehrheiten mit zwischen 342 und 348 ja Stimmen. Einige der wichtigsten Abänderungsvorschläge sind bereits in der ersten Lesung angenommen.
Vergeblicher Widerstandskampf der Opposition
Die grösste der Oppositionsparteien, die CHP (Republikanische Volkspartei) leistet heftigen Widerstand im Parlament. Sie verfügt über 133 Parlamentarier. Es kam manchmal zu Handgemengen unter den Abgeordneten. Die Regierungspartei warf der Opposition vor, einer der Oppositionsparlamentarier habe einen der ihren „ins Bein gebissen“. Doch die Zahlenverhältnisse sind dermassen, dass die Opposition keine wirklichen Chancen hat.
Die vierte im Parlament vertretene Partei, jene der Kurden und anderer Oppositionskräfte meist linker Ausrichtung, die HDP (Demokratische Partei der Völker), enthält sich der Teilnahme an den Abstimmungen, weil mehrere ihrer Abgeordneten und ihre Parteiführung im Gefängnis sitzen. Sie sind angeklagt, mit dem „kurdischen Terrorismus der PKK“ zu sympathisieren oder zu kollaborieren. Ihre Stimmenthaltung oder Stimmabgabe zu Gunsten der Opposition würde die Mehrheitsverhältnisse nicht verändern.
Da die Regierungspartei die Mitarbeit der MHP für ihre Mehrheit benötigt, ist diese in der Lage, Abänderungen an der vorgeschlagenen Verfassungsrevision zu verlangen und einzuhandeln. Aus diesem Grunde stehen noch nicht alle der geplanten Verfassungsabänderungen im Detail fest. Doch es ist zu erwarten, dass die AKP die wesentlichen Privilegien durchsetzen wird, die sie ihrem Chef Erdogan als Staatspräsident zu verschaffen gedenkt.
„Der Sultan kehrt wieder!“
Die Oppositionspartei spricht von einem Regimewechsel, den die Mehrheitspartei durchsetzen wolle. Denn, so formulierte es einer ihrer Redner, Bülent Tezcan, sie gedenke, „die Macht wieder dem Palast zuzuschanzen“, wie das zu Zeiten der Sultane war. Ihre Redner führten auch aus, dass das Argument des Ministerpräsidenten, nach dem die Einmannherrschaft notwendig sei, um Sicherheit und Prosperität der Türkei zu gewährleisten, keineswegs zutreffe, denn die bisher 14 Jahre des Regimes Erdogans hätten zu der gegenwärtigen Lage geführt, in der ganze Ketten von Bombenanschlägen das Land heimsuchen und die Wirtschaft am Absinken sei.