Die Tschetschenienkriege in den 1990er und den ersten Nuller-Jahren drehten sich um die umstrittene Sezession des tschetschenischen Territoriums im Nordkaukaukasus von Russland.
Die blutige Niederschlagung dieses Aufstandes und die Errichtung einer kriminellen Lokaldiktatur ist Putins erste grosse Konfliktbewältigung, die seine Präsidentschaft konsolidiert hat.
Unter dem Stichwort Tschetschenienkrieg gilt es zwei sehr verschiedene Phasen zu unterscheiden. Der erste Tschetschenienkrieg fand noch unter der Regentschaft von Boris Jelzin statt, dem ersten Präsidenten der Russischen Föderation nach der formellen Auflösung der Sowjetunion (1991). Der zweite Tschetschenienkrieg dauerte von 1999 bis 2009 und lief vollständig unter der Verantwortung von Jelzins Nachfolger Putin ab, auch wenn dieser 1999 zunächst nur als Ministerpräsident amtierte und erst 2000 gewählt wurde.
Erster Tschetschenienkrieg während Jelzins Präsidentschaft
Der Konflikt um die kleine nordkaukasische Sowjetrepublik begann noch vor dem Zerfall der Sowjetunion, als das damalige tschetschenische Oberhaupt Dudajew im November 1991 die Unabhängigkeit seines Territoriums erklärte. Moskau wollte das nicht anerkennen, doch ein militärischer Feldzug gegen das kleine Tschetschenien wurde von Präsident Jelzin erst drei Jahre später, im Dezember 1994 befohlen. Der Angriff war schlecht organisiert und es gelang den russischen Streitkräften nur langsam und mühsam, die Hauptstadt Grosny und den grössten Teil Tschetscheniens halbwegs unter Kontrolle zu bringen.
Im Juli 1995 wurde ein erster Waffenstillstand vereinbart, der jedoch nicht lange hielt. Tschetschenische Separatisten führten den Kampf aus dem Untergrund weiter. Ein Jahr später wurde ein neuer Waffenstillstand vereinbart, der unter anderem den Abzug der meisten russischen Truppen aus Tschetschenien vorsah. Durch die Kämpfe in den ersten zwei Jahren starben auf beiden Seiten mindestens 80’000 Menschen.
Anfang 1997 fanden nach dem weitgehenden Abzug des russischen Militärs in Tschetschenien Wahlen statt, bei denen der gemässigte Rebellenführer Maschadow, ein früherer hoher Sowjetoffizier, zum Staatschef bestimmt wurde. Doch einige Gruppen unter den zerstrittenen tschetschenischen Separatisten wollten sich Maschadows Bemühungen um einen Ausgleich mit Moskau nicht unterordnen und unternahmen verschiedene neue Angriffe, so im Sommer 1999 auf das Gebiet der zur russischen Föderation zählenden Nachbarrepublik Dagestan.
Putin übernimmt das Kommando
Zur gleichen Zeit übernahm in Moskau Wladimir Putin das Amt des Ministerpräsidenten. Er zeigte sofort dezidierte Entschlossenheit, die tschetschenischen Rebellen mit massiven militärischen Kräften zu bekämpfen. Das stärkte auch das Vertrauen in seine Führungskraft und verhalf ihm im März 2000 zur praktisch unbestrittenen Wahl ins Präsidentenamt und zur Nachfolge Jelzins.
Mit Putin an der Macht begann die Phase des zweiten Tschetschenienkrieges, die rund zehn Jahre dauerte und die insgesamt noch viel dramatischer, blutiger und zerstörerischer verlief als die erste Phase. Kurz nach den Überfällen tschetschenischer Extremisten in Dagestan kam es in Moskau und anderen russischen Städten zu mehreren Sprengstoffanschlägen gegen Wohnhäuser mit mehreren hundert Toten. Das schürte in Russland die kriegerische Stimmung gegen die abtrünnigen Tschetschenen. Zwar sind die Tathergänge für diese blutigen Verbrechen nie eindeutig geklärt worden, doch es gibt ernsthafte Indizien und Vermutungen, dass sie vom russischen Geheimdienst mit diskreter Genehmigung des amtierenden Regierungschefs Putin organisiert worden waren.
Schon im Oktober 1999 marschierte die russische Armee erneut in Grosny ein. Putin flog kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten im März 2000 publikumswirksam mit einem Kampfflugzeug in die tschetschenische Hauptstadt. Die tschetschenische Führung tauchte in den Untergrund ab und wehrte sich durch Guerilla-Taktik und spektakuläre Terroranschläge gegen die russische Herrschaft. Zu diesen gehörte die Geiselnahme von mehreren hundert Zuschauern im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002. Durch den Einsatz eines ungetesteten Betäubungsgases starben 129 Geiseln und alle 41 Geiselnehmer konnten getötet worden.
Tschetschenischer Terrorismus
Im Oktober 2003 fanden unter russischer Kontrolle in Tschetschenien Präsidentenwahlen statt. Gewählt wurde Putins Kandidat Achmad Kadyrow, der Chef der lokalen Verwaltung. Doch schon einige Monate später fiel dieser einem Bombenanschlag zum Opfer. Im September starben bei einem Überfall auf eine Schule im nordossetischen Beslan, das an Tschetschenien angrenzt, 338 Menschen, mehrheitlich Kinder, sowie 30 Geiselnehmer aus dem Umkreis tschetschenischer Rebellen.
Verschiedene Rebellengruppen setzten den Kampf gegen die russische Herrschaft durch Anschläge und Entführungen fort, die teilweise durch Drogenhandel finanziert wurden. Doch ihre Kräfte waren zunehmend geschwächt. Maschadow und sein konkurrierender Separatistenführer Bassajew wurden getötet. 2007 wurde durch Moskau Ramsan Kadyrow, der Sohn des drei Jahre zuvor umgebrachten Achmad Kadyrow als neuer tschetschenischer Präsident eingesetzt.
Ramsan Kadyrow entpuppte sich als treuer Statthalter Putins, der Tschetschenien bis heute mit eiserner Faust, korrupten Methoden, einem muslimisch verbrämten Personenkult und skrupellosen Menschenrechtsverletzungen regiert. Seinem kriminellen Umfeld wird auch die Ermordung der russischen Menschenrechts-Aktivistin und Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau zugerechnet.
Seit dem Ende des zweiten Tschetschenienkrieges 2009 herrscht in dem nordkaukasischen Territorium eine Art Friedhofsruhe. Zehntausende von Bewohnern sind schon während des Krieges und später unter dem repressiven Regime des Putin-Statthalters Kadyrow ins Ausland geflüchtet. Der Wiederaufbau der zerstörten Hauptstadt Grosny und der Unterhalt der Kadyrow-Diktatur wird auf undurchsichtige Weise hauptsächlich von Moskau finanziert. Kadyrow unterhält eigene militärische Streitkräfte, die er teilweise auch im Ukraine-Krieg zur Unterstützung der russischen Armee einsetzt.
Tschetschenienkrieg und Ukraine-Krieg
Ein Vergleich der Tschetschenienkriege mit dem laufenden Krieg Russlands gegen die Ukraine liegt nahe, obwohl die erstere Tragödie im allgemeinen Bewusstsein schon weitgehend vergessen scheint. In beiden Kriegen ist vor allem der immer noch in Moskau regierende Machthaber Putin eine entscheidend treibende und verantwortliche Kraft. Allerdings unterscheiden sich die politischen Hintergründe für die kriegerischen Konfrontationen in zentralen Punkten.
Die Ukraine und Tschetschenien gehörten zwar schon zur Zarenzeit zum russischen Imperium. Doch bei der Auflösung der Sowjetunion 1991 hat Moskau die Unabhängigkeit der Ukraine und aller übrigen früheren Sowjetrepubliken ausdrücklich und bindend anerkannt. Tschetschenien und alle anderen kleineren Republiken auf der Nordseite des Kaukasus blieben dagegen (im Unterschied zu den unabhängig gewordenen südkaukasischen Republiken wie Georgien, Armenien und Aserbeidschan) weiterhin Teil der Russischen Föderation. Moskau hat die Sezession Tschetscheniens nie offiziell und abschliessend anerkannt.
Insofern blieben die Tschetschenienkriege formell eine innere russische Angelegenheit, während der Überfall auf die Ukraine einen eindeutigen Bruch des Völkerrechts darstellt. Anders als im Fall der Ukraine kann man auch mit einigem Grund argumentieren, dass die tschetschenische Seite, respektive deren zerstrittene Führungskräfte, zu einem erheblichen Teil mitverantwortlich sind für den Ausbruch und die Eskalation dieser nordkaukasischen Tragödie. Im ersten Tschetschenienkrieg während Präsident Jelzins Amtszeit wurde im Rahmen des letzten Waffenstillstandes immerhin die Möglichkeit offengelassen, dass sich die Konfliktparteien auf einen dauerhaften Kompromiss zum zukünftigen Status Tschetscheniens einigen könnten.
Doch durch die Angriffe tschetschenischer Extremisten auf die Nachbarrepublik Dagestan im August 1999 wurde dieser Waffenstillstand provokativ gebrochen und der neue Regierungschef Putin zeigte keinerlei Interesse mehr, weitere Verständigungen über Tschetschenien anzustreben. Vielmehr nutzte er die Gelegenheit, durch hemmungslosen Gewalteinsatz die Tschetschenienfrage endgültig im Sinne Moskaus zu entscheiden.
Dass Putin in dem von ihm später künstlich vom Zaun gerissenen Konflikt mit der Ukraine bereit sein könnte, mit ähnlicher militärischer Rücksichtslosigkeit und moralischer Skrupellosigkeit vorzugehen wie im zweiten Tschetschenienkrieg hätte man nach den Erfahrungen im Nordkaukasus eigentlich erahnen können. Und dennoch hat Putins mörderischer Überfall auf das von Moskau zuvor völkerrechtlich in aller Form anerkannte Nachbarland im Februar des vergangenen Jahres die meisten Beobachter überrascht.