Einen Tag vor der amerikanischen Präsidentenwahl vom 3. November schrieb eine Leserin im konservativen «Wall Street Journal», sie stimme mit den kritischen Kommentaren der Zeitung zur Politik der Demokraten fast vollständig überein, «aber ich habe dennoch Biden gewählt». Es gehe doch darum, «keinen Präsidenten zu haben, der ständig Unsinn auf Twitter verspritzt». Es sei nicht angenehm, gegen seine eigenen Prinzipien stimmen zu müssen, «but character matters».
Character matters?
Diese Leserin ist offenkundig eine ziemlich einsame Figur im Lager der republikanischen Stammwähler. Die grosse Mehrheit unter ihnen und eine nicht geringe Zahl darüber hinaus haben sich von der Charakterfrage nicht beirren lassen und ihre Stimme für den amtierenden Präsidenten eingelegt. Trump hat damit mehr Stimmen bekommen als bei seiner Wahl vor vier Jahren. Allerdings hat sein Herausforderer Biden immer noch einen klaren Vorsprung von insgesamt 6 Millionen Stimmen erzielt. (Fast 80 Prozent der Trump-Anhänger sollen laut Umfragen noch in der vergangen Woche der Meinung gewesen sein, dass Biden die Wahl nur durch Betrug gewonnen habe.)
«Character matters», der Charakter ist wichtig. Dass der rücksichtslose Egozentriker Trump einen nach gängigen Massstäben fragwürdigen Charakter hat, können nach seinen vier Amtsjahren im Weissen Haus wohl auch seine engagiertesten Fans nicht mehr ernsthaft in Abrede stellen. Trump hat keinerlei Hemmungen, laufend lügenhafte Behauptungen zu verbreiten, unflätige Attacken gegen eigene Parteifreunde oder einst hochgelobte Mitarbeiter zu reiten, die diesjährige Präsidentschaftswahl schon im Voraus als «korrupteste Wahl der amerikanischen Geschichte» zu diskreditieren, sich keinen Deut um diplomatische Gepflogenheiten zu scheren, sich selber ständig in pompösen Tönen zu beweihräuchern und die Corona-Pandemie gegen jede Evidenz zu verharmlosen.
Immerhin haben republikanische Grössen wie der frühere Präsident George W. Bush, der ehemalige Präsidentschaftskandidat und heutige Senator Mitt Romney und inzwischen selbst Präsident Reagans ehemalige Redenschreiberin und «Wall Street Journal»-Kolumnistin Peggy Noonan sich von Trumps rüpelhaftem Stil unmissverständlich distanziert.
Ein konkretes Beispiel
Muss man also annehmen, dass für die meisten Trump-Wähler die Charakterfrage, anders als bei der erwähnten «Wall Street Journal»-Leserin, keine entscheidende Rolle spielt? Oder dass zumindest ein Teil seiner Anhänger Trumps Charakter sogar attraktiv findet?
Zur ersten Kategorie zählen auch jene Wähler, die bestimmte Aspekte seiner Politik (etwa seinen China-Kurs, die Klima-Politik oder die Waffengesetze) energisch befürworten und deshalb bereit sind, seine Charakterdefizite grosszügig zu tolerieren. Das ist zum Beispiel der Fall bei einer langjährigen Bekannten, die in Virginia wohnt. Sie hat eine grosse Familie, ist literarisch hoch gebildet und streng katholisch. Über Trumps fragwürdigen Charakter macht sie sich kaum Illusionen – und trotzdem hat sie für ihn gestimmt.
Und zwar deshalb, weil sie sich bessere Chancen ausrechnet, dass unter seiner Präsidentschaft die liberale Abtreibungsregelung in den USA vom Obersten Gerichtshof wieder zurückgedreht werden könnte. Mögliche Schritte zu einer solchen Entscheidung hat Trump in seiner ersten Amtszeit mit der Ernennung von drei neuen konservativen Richtern im Supreme Court immerhin bereits getan.
«Hillbilly Elegy»
Die grösste Gruppe unter den Trump-Wählern findet man zweifellos im weiten Feld der weissen Unterschicht ohne mittleren oder höheren Bildungsabschluss. Es sind die sogenannten Globalisierungsverlierer, die durch die Abwanderung traditioneller Industrien wie die umweltbedingte Stilllegung des Kohlebergbaus ihren Job verloren haben oder aus den verschiedensten Gründen gar nie einen Job hatten oder suchten, die zum harten Kern von Trumps Wählerbasis zählen.
Auch wenn den als schwerreich auftretenden Baulöwen aus New York mit diesem Milieu persönlich kaum etwas verbindet, so versteht er es doch mit sicherem Instinkt, dessen Ressentiments und Misstrauen gegen die sogenannten Eliten und ihren mehrheitlich privilegierten Bildungshintergrund anzustacheln. Wer nähere Einblicke zumindest in ein bestimmtes Segment dieses heterogenen sozialen Umfeldes gewinnen will, dem sei der vor kurzem angelaufene Film «Hillbilly Elegy» empfohlen. Auch wenn darin Parteipolitik keine Rolle spielt, so lässt sich unschwer vorstellen, dass ein grobschlächtiger Charakter vom Schlage eines Trump bei der Mehrheit dieser Hillbilly-Leute durchaus auf Verständnis, wenn nicht gar auf Bewunderung stösst.
Ideologen und Spekulanten
Wie aber halten es die Trump-Apologeten ausserhalb der USA mit der Charakterfrage? Hier kann man grob zwischen zwei Gruppen unterscheiden: den Ideologen und den Spekulanten. Die Ideologen sind auf ein bestimmtes Weltbild und in aller Regel auch auf eine bestimmte Partei fixiert. Sie fühlen sich im Hinblick auf die USA grundsätzlich an die Republikaner attachiert, unabhängig davon, ob diese von einem welterfahrenen Gentleman wie George Bush senior, einem konservativen, aber weltoffenen Ex-Filmschauspieler wie Ronald Reagan oder einem gewissenlosen Narzissten wie Donald Trump geführt wird. (Solche Partei-Loyalitäten sind allerdings auch bei den Demokraten keine Seltenheit.)
Zu den Spekulanten sollte man in diesem Kontext hierzulande weniger die Börsenhändler als vielmehr die publizistischen Pro-Trump-Aktivisten zählen. Sie trommeln für Trump, weil sie darauf spekulieren, sich so aus dem sogenannten Mainstream herauszuheben. Das soll auflagemässig oder klickzahlenmässig Gewinn einbringen. Die Trumpsche Charakterfrage spielt bei diesem Kalkül keine Rolle. Gemäss solcher opportunistischen Akrobatik ist Trump trotz seiner Wahlniederlage «im Felde unbesiegt», wie der «Weltwoche»-Chef in einem Leitartikel titelte. Dass er mit solchen Sprüchen gleichzeitig an eine verhängnisvolle deutsche Dolchstosslegende nach dem Ersten Weltkrieg anknüpft, scheint ihn nicht zu stören, passt aber zum Verschwörungsgeraune der Trump-Enthusiasten.