Noch immer reiben sich weitherum viele über den zum neuen US-Präsidenten gewählten Donald Trump die Augen. (Notabene mit zwei Millionen Stimmen weniger als Hillary C.) Wie soll man ihn begrifflich einordnen? Als Populisten, als Revolutionär, als milliardenschweren Anwalt des kleinen Mannes, als Demagogen, als Visionär?
Demagogischer Slogan der Stunde
Der Amerikaner Mark Lilla, Professor für Ideengeschichte an der Columbia University in New York, bietet da scharfsichtige Orientierung. In einem von der NZZ übersetzten und publizierten Beitrag schlägt er eine Schneise in den Dschungel weltpolitischer Widersprüchlichkeiten. Die Politik sei heute von „Wut, Verzweiflung und Ressentiment“ getrieben. Und – und damit im Zusammenhang – vor allem von Nostalgie. „Make X Great Again“ sei der demagogische Slogan der Stunde. Von solchen rückwärts orientierten Beschwörungen wird nicht nur Trumps Kampagne befeuert. Auch Putins Feuerwerk zur Wiederherstellung vergangener Grösse nährt sich von dieser Flamme. Und kaum zweifelhaft stützte sich der unerwartete Erfolg der Brexit-Befürworter auf nostalgische Verklärungen der Vergangenheit. Viel extremer äussert sich diese Rückwärtsgewandtheit in der Rhetorik und blutigen Praxis des politischen Islamismus.
Lilla diagnostiziert all diese Strömungen als reaktionär. „Der Reaktionär weidet sich am Glanz der Vergangenheit.“ Reaktionäre aber seien keine Konservative, stellt der Autor fest und markiert damit eine klare Abgrenzung zwischen diesen beiden weltanschaulichen Positionen. Der Konservative sei sich bewusst, dass die Geschichte nie stillstehe und dass deshalb eine allmähliche, schrittweise Transformation von Brauch und Tradition die verträglichste Form der Veränderung bleibe. Aber er lehnt das Ausrufen „grundstürzender Reformen“ ab, er setzt auf „Bescheidenheit“, weil er daran glaubt, „dass die Geschichte uns voranbringt und nicht umgekehrt“. Deshalb war der britische Konservative Edmund Burke auch ein scharfer Kritiker der französischen Revolution und ihrer blutigen Exzesse.
Rechte und linke Reaktionäre
Schon diese Charakterisierungen (Bescheidenheit!) machen überdeutlich: Trump gehört zur Kategorie der Reaktionäre. Er ist kein Konservativer und auch kein aufgeklärter Patriot. Das wird noch klarer durch Lillas Verweis auf ein weiteres Grundelement einer reaktionären Haltung: „Der Verrat durch die Eliten ist ein zentrales Element jedes reaktionären Mythos.“ (Dass der Immobilienmogul und TV-Entertainer Trump zumindest im materiellen Sinne selber ein profitierendes Mitglied dieser vielgeschmähten „Elite“ ist, zählt mit zu den vielen Widersprüchen seines Wahlerfolges.)
Allerdings erkennt Mark Lilla Reaktionäre nicht nur am rechten Rand des politischen Spektrums. Auch unter den Linken gibt es nach seiner Analyse rückwärtsgewandte reaktionäre Strömungen. Diese schwärmen von Revolutionen vergangener Jahrhunderte, von Arbeiteraufständen und Generalstreiks. Dass solche Bewegungen heute in unseren Breitengraden nur noch wenig Anziehungskraft ausstrahlen, dafür sind – nach ähnlichem Schuldmuster wie bei den rechten Reaktionären – wiederum die Eliten und die Intellektuellen schuld: in diesem Fall die Irreführungen „neoliberaler“ Ökonomen.
Keine plausiblen Zukunftsvisionen
Ein verbindendes Element zwischen rechten und linken Reaktionären ist die Artikulation des verständlichen Unbehagens über den immer rasanteren gesellschaftlichen Wandel, der durch die wirtschaftliche Globalisierung angetrieben wird. Lilla räumt aber in seiner Diagnose ein, dass heute keine Partei und keine politische Bewegung in der westlichen Welt eine „plausible Zukunftsvision anbieten kann“, die diesem beschleunigten Wandel Rechnung trage.
Dass Trump vom Reaktionär zum glaubwürdigen Visionär mutieren könnte, ist zwar wenig wahrscheinlich. Aber Politik und Zukunft sind unberechenbar, wie gerade die unmittelbare Gegenwart wieder eindrucksvoll bestätigt. Diesem Befund würde auch ein waschechter Konservativer zustimmen.