Das hätten sich US-Präsident Donald Trump und sein Schwiegersohn Jared Kushner sicher nicht träumen lassen: Dass man ihnen in Israel öffentlich vorwerfen würde, sie seien „keine Freunde Israels“. Nach allem, was beide zur Unterstützung der politischen Rechten unter Benjamin Netanjahu und zur Förderung dessen „Gross-Israel“-Ambitionen getan haben, erklärt nun der Vorsitzende des Siedlerrates im Westjordanland, David Elhayani, den amerikanischen Präsidenten und seinen Sonderberater zu unzuverlässigen, wenn nicht gar schädlichen Zeitgenossen.
Netanjahus Annexionspläne
Netanjahu muss solche Kritik wie einen Angriff aus dem Hinterhalt empfunden haben, war er doch bisher voll des Lobes für Trump gewesen und hatte er diesen doch als Israels besten und zuverlässigsten Freund gefeiert. Netanjahus Verurteilung der Kritik am Weissen Haus liess deswegen auch nicht lange auf sich warten, sie konnte aber nicht wirklich übertünchen, dass der Ministerpräsident selbst die Dinge so weit hatte kommen lassen:
Spätestens seit der Amtseinführung der neuen Koalitionsregierung in Jerusalem hatte Netanjahu selten eine Gelegenheit ausgelassen, für den 1. Juli die „Ausweitung israelischer Souveränität“ auf die Gebiete israelischer Siedlungen im Westjordanland anzukündigen.
Im Klartext: Die Annexion von nahezu einem Drittel dieser seit dem Sechstagekrieg 1967 unter israelischer Besatzung und Militärverwaltung stehenden Region. Die Annexion besetzter Gebiete gilt zwar weiterhin als Verstoss gegen das Völkerrecht, Israel hat aber bereits vor Jahren die syrischen Golan-Höhen annektiert und den arabischen Ostteil Jerusalems – das damit zur „Ewigen Hauptstadt Israels“ deklariert wurde.
Unter Präsident Trump haben die USA diese bisherigen Schritte für rechtens erklärt und Israel auch das Recht auf Gründung jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten zugestanden. Von da schien der Weg zu neuen Annexionen nicht mehr weit. Zumindest berichtete Netanjahu wiederholt, dass Trump nichts gegen die Ausweitung israelischer Souveränität habe.
Trumps und Kushners sogenannter Friedensplan
Anfang des Jahres wurde in Washington endlich der lange angekündigte US-„Friedensplan“ für den israelisch-palästinensischen Konflikt – wenigstens teilweise – verkündet und Netanjahu hätte am liebsten gleich losgelegt. Kushner, der Haupt-Autor des Plans, konnte ihn nur mühsam daran hindern. In der Folge traten dann aber weitaus wirkungsvollere Hindernisse auf: In Israel erst einmal die dritten Wahlen binnen eines Jahres. Dann in der ganzen Region und weltweit die Corona-Pandemie.
Je mehr Zeit verstrich, desto wichtiger wurde schliesslich der Aspekt der US-Präsidentschaftswahlen: Trump konnte kein Interesse daran haben, israelische Annexionspolitik zu einem seiner Wahlkampfthemen zu machen, denn nicht nur die Demokraten haben sich gegen die Pläne Netanjahus ausgesprochen, sondern auch in den Reihen der Republikaner rührt sich Widerstand.
Absagen und Rückzugsmanöver
Washington versuchte deswegen, sich aus der Verantwortung zu stehlen, indem es Israel wissen liess, Jerusalem könne das selbst organisieren, am besten in Abstimmung mit den Palästinensern. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas hatte da aber längst schon abgewunken: Man werde den Plan nicht akzeptieren und warne vor den Folgen in den besetzten Gebieten. Konkret verkündete Abbas das Ende der Zusammenarbeit mit Israel in diversen Bereichen. Aus seiner Umgebung waren sogar unverhohlene Warnungen vor einer neuen „Intifada“ („Aufstand“) zu hören.
Auch Jordanien warnte bereits wiederholt vor den Folgen, die eine Annexion von weiten Teilen des Westjordanlandes haben würde. Und in politischen Kreisen Israels wurde man skeptisch, ob die vorsichtige Annäherung an Saudi-Arabien und andere arabische Ölstaaten am Persischen Golf solch einen Schritt überleben werde.
So begann Netanjahu, einen ersten vorsichtigen Rückzieher zu machen: Das mit der Souveränitätserweiterung betreffe nur die grösseren Siedlungsgebiete und das Jordantal, denn in den letzten fünf Monaten seit der Vorstellung des angeblichen Friedensplans in Washington habe sich „viel verändert“. Wohl wahr: Hatte man nämlich gedacht, dass hiermit die Zweistaaten-Theorie zu Grabe getragen würde, kamen nun offenbar Signale aus Washington, Israel solle doch mit den Palästinensern über einen Staat in den Teilen des Westjordanlands zu verhandeln, in denen es keine oder nur sehr wenige jüdische Siedlungen gibt.
Ob Donald Trump selbst hinter dieser Idee steckt, dürfte angesichts seiner wachsenden Probleme in den USA vor den Wahlen fraglich sein. Auf jeden Fall aber dürfte feststehen, dass hiermit keine Kompromisslösung erreicht werden kann. Die Palästinenser werden schwerlich zustimmen, weil das für sie längst kein „Kompromiss“ mehr sein kann: Ursprünglich träumten sie von einem Staat im gesamten historischen Palästina, mit dem Teilungsplan der Vereinten Nationen und der Staatsgründung Israels standen dafür nur noch das Westjordanland und der Gazastreifen zur Verfügung. Seit dem Sechstagekrieg 1967 standen oder stehen diese Gebiete aber unter israelischer Kontrolle und Israel hat auf dem Westufer des Jordan mit seinem massivem Siedlungsbau die Möglichkeiten für einen Staat kontinuierlich reduziert. Und nun soll das den Palästinensern verbliebene Gebiet noch einmal um ein Drittel verringert werden?
Netanjahu unter Druck
In Israel wiederum ist die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten von der Politik – besonders, aber nicht ausschliesslich seitens rechter Regierungen – darauf getrimmt worden, dass letztlich jeder Teil des biblischen „Eretz Israel“ dem Staat Israel gehöre. Netanjahus Popularität rührt genau daher, obwohl es genug Gründe gäbe, ihn als Politiker abzulehnen. Wenn jetzt so harsche Kritik an Trump aus den Reihen der (religiös-nationalistischen) Siedler kommt, dann könnte sich diese Kritik bald auch auf Netanjahu ausdehnen, und zwar je näher der Stichtag der geplanten Annexion, der 1. Juli, heranrückt.