„Heimkehr“ heisst der Roman, den uns Thomas Hürlimann nach zwölfjähriger krankheitsbedingter Pause vorlegt. Ein gewaltiges Stück Prosa, das wie ein erratischer Block in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur steht, keine zeitgeistigen Affinitäten aufweist, höchstens, dass es Motive aus früheren Romanen des Autors verwendet und weiterentwickelt.
Erzählt wird auf 522 dichten Seiten, wie die Hauptfigur des Romans, Heinrich Übel Junior, Sohn des Gummifabrikanten Heinrich Übel Senior, in drei Anläufen versucht heimzukehren ins Fräcktal, wo der Vater haust und herrscht. Das Fräcktal samt Stausee kann man sich als eine Mischung verschiedener Innerschweizer Landschaften vorstellen und der Held, besser Antiheld des Romans ist am exakt gleichen Tag geboren wie der Autor – was Leserin und Leser nicht dazu verleiten sollte, nach autobiografischen Übereinstimmungen zu suchen. Dieser Heinrich ist eine höchst komplexe Kunstfigur, ausgesetzt und sich stets aufs Neue verlierend im Reich der Fantasie.
Der erste Versuch, nach Hause zurückzufinden, endet in einem Autounfall, der dem Protagonisten die Besinnung raubt. Er erwacht in einem Hotel an der Südküste Siziliens, kann sich an nichts erinnern, weiss nicht, wer er ist – und begibt sich auf Spurensuche. Im grossen Rest des Romans folgen wir den Zickzackwegen, die der Protagonist einschlägt und die ihn über Nordafrika, Berlin, Zürich ins Fräcktal führen, auf der Suche nach Identität und Heimat.
Unbändige Fabulierlust
Hürlimanns Erfahrungen mit dem Theater beeinflussen den Roman. Er liest sich wie eine ausufernde Inszenierung, wie eine Sammlung von geschriebenen statt gespielten Szenen, in denen der jeweils bearbeitete Stoff mit allen erdenklichen Sprachmitteln sinnlich gemacht, ans Licht gebracht wird. Einer unbändigen Fabulierlust gehorchend, fügt der Autor abenteuerliche, auch aberwitzige Einfälle und Gedankengänge aneinander. Aber gleichzeitig verliert er sein Ziel, Heimkehr, Identitätssuche, nie aus den Augen, und das strukturiert den Roman, bietet Halt beim Lesen.
Es gibt Echoräume im Roman und jeder Leser wird, je nachdem was er erkennt, andere vorfinden. Natürlich erinnert einen der ständig mit Hindernissen beschäftigte Heimkehrer an den berühmtesten Heimkehrer der Weltliteratur, an Odysseus. Aber auch an Frischs Stiller, der nicht der sein will, für den ihn alle halten, darf gedacht werden. Platon, Empedokles werden explizit erwähnt, wenn es darum geht, abgründige Situationen zu bestimmen und Rimbauds Zentnersatz „Ich ist ein anderer“ schwebt wie eine Wolke über dem Protagonisten. Hürlimann verortet seinen Roman, der sich mal als Kriminalstory, mal als Schelmenstück, dann wieder als selbstquälerische Introspektion liest, leicht und lose in philosophischen und literarischen Traditionen, was ihm nichts von seiner Originalität nimmt.
Patzer gibt es auch
Alles nur Menschenmögliche fordert Hürlimann der Sprache ab, um sein uraltes Thema (wer bin ich?) zu instrumentalisieren. Da kann es nicht erstaunen, dass er seine Stilmittel gelegentlich überfordert. So werden komisch-groteske Szenen in die Posse getrieben, menschliche Figuren verwandeln sich in reine Karikaturen oder es spricht und argumentiert eine DDR-Genossin, der Heinrich Übel in Liebe verfallen ist, derart penetrant mit vorfabrizierten Worthülsen, dass die zuerst vielversprechende Szene schnell im Eimer ist.
Solche Patzer ändern kaum etwas am Gesamteindruck – der bleibt überwältigend, was weniger dem aus tausend Geschichten zusammengeschweissten Plot als der Sprache geschuldet ist.
Metamorphose der Sprache
Es handelt sich um eine Sprache im Zustand der Metamorphose. Sie wandelt sich ständig, manchmal von Satz zu Satz. Alle Formen von Komik beherrscht der Autor, das geht von sarkastisch, ironisch bis derb zotig oder melancholisch-humoristisch. Ausgesuchte Bilder, schöne, grausige, prägen die beschreibenden Passagen. Und was die vielen Dialoge angeht, die effektvoll wuchtigen so gut wie die knorzigen oder tastenden, so spürt man hier den Dramatiker Hürlimann, dem in solchen Situationen die Wörter wie von selber aus dem Papier herauswachsen.
Barocke Prachtentfaltung, kann man dem Roman nachempfinden, wobei sich solche sprachliche Üppigkeit paradoxerweise auch im Dreck oder im Suff ereignet, dem sich der Protagonist und seine Vertrauten in Ermangelung von zwingenden Alternativen zu ergeben pflegen. Es ist diese sprachliche Meisterschaft, die alles ausprobiert, die einem die einerseits anstrengende, anderseits sehr unterhaltsame Lektüre des Romans zum Vergnügen macht. Wenn auf den letzten Seiten ein sprechender, drogierter Kater den unglücklichen Heinrich wieder von der fast vollendeten Heimkehr abbringt, weiss unser Antiheld, dass er zum wiederholten Mal einen Fehler („es war kein grosser Fehler, nur ein kleiner“, wie die stereotype Formel heisst) begangen hat – und wir dürfen hoffen, dass sich der für uns im nächsten Roman Thomas Hürlimanns auszahlt.
Thomas Hürlimann: Heimkehr. S. Fischer Verlag 2018, 522 Seiten.